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“Freizeit ist Erholung” – Historiker kritisiert Arbeitszeitdebatte

Während Politiker wie Friedrich Merz eine andere Arbeitsmoral fordern, betont der Historiker Jürgen Schmidt die Bedeutung von Erholung. Zudem kritisiert er die Unsichtbarkeit von – meist weiblicher – Care-Arbeit.

Mehr arbeiten, um mehr wirtschaftliches Wachstum zu generieren – Forderungen danach wurde in jüngster Zeit immer lauter. Der Sozialhistoriker Jürgen Schmidt hält Mehrarbeit als Mittel für Wachstum allerdings für ein “Scheinargument”, wie er im Interview der “Süddeutschen Zeitung” (Mittwoch) erklärte. “Als die Arbeiterinnen bis zu 14 Stunden in den Fabriken malocht haben, war das ein deutlicher Produktionszuwachs – aber nichts im Vergleich zu heute, wo mit wesentlich weniger Kräften in weniger Zeit wesentlich mehr produziert wird.”

Laut Schmidt, der das Karl-Marx-Haus in Trier leitet, war Arbeit schon immer beides – “sowohl Last und Lust als auch Ausbeutung und Erfüllung”. Diese Tatsache werde ignoriert, wenn beispielsweise Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) behaupte, dass Arbeit nur noch als Unterbrechung von Freizeit wahrgenommen werde. “Dabei ist Freizeit unverzichtbar, um sich von der schweren, erschöpfenden Arbeit zu erholen.”

Der Sozialhistoriker plädiert dafür, den Arbeitsbegriff zu erweitern. Einmal um Care-Arbeit und Hausarbeit – denn diese Doppelbelastung von Frauen habe “eine lange Tradition, ohne in statistischen Erhebungen ausreichend berücksichtigt zu sein”. Auch bürgerschaftliches Engagement sollte laut Schmidt als Arbeit zählen – “da wird Enormes geleistet”.

Dass früher mehr gearbeitet worden sei, stimme zudem nur “auf den ersten Blick”. Zwar sei die Jahresarbeitszeit von 3.000 Stunden im frühen 19. Jahrhundert auf heute 1.700 Stunden zurückgegangen, aber: “Die Arbeitszeit war früher poröser, weniger durchgetaktet, und sie ließ mehr Raum, auch mal durchzuschnaufen”, erklärte der Experte.

Die Idee des Acht-Stunden-Tags sei schon in den 1890er Jahren aufgekommen: “acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Schlaf”. Während der Industrialisierung habe sich die Trennung von Arbeit und Zuhause durchgesetzt. Inzwischen verschwimme die Grenze wieder, so dass die Gesellschaft laut Schmidt mit der “permanenten Erreichbarkeit und der Vermischung von Arbeit und Privatsphäre zu vorindustriellen Arbeitspraktiken” zurückkehre.