“Vorstellungsänderung” kündigte der Anschlag am Münchner Residenztheater am Samstag an. Krankheitsbedingt wurde die Premiere der “Gschichtn vom Brandner Kaspar” abgesagt. Doch für besonderen Ersatz war gesorgt.
Theaterleuten wird nachgesagt, einen Hang zum Aberglauben zu haben. Ob es jedoch tatsächlich am Freitag, den 13. Juni, lag, mag dahingestellt sein. Jedenfalls war zu diesem Zeitpunkt dem Intendanten des Münchner Residenztheaters, Andreas Beck, klar, dass es mit der groß angekündigten Premiere des neuen Stücks von Franz Xaver Kroetz “Gschichtn vom Brandner Kaspar” mit dem 82-jährigen Günther Maria Halmer in der Titelrolle am nächsten Abend nichts werden wird. “Aufgrund von Erkrankung” musste die Premiere auf Mittwoch verschoben werden.
Was also tun? Beck rief bei Kroetz an und schilderte ihm die Situation. “Und ich alter Depp habe mich überreden lassen”, ergänzte der 79-jährige Dichter das Ergebnis der Unterredung. So kamen die Besucherinnen und Besucher am Samstagabend zu einem nicht geplanten Präludium: einer Lesung des neuen Werks durch seinen Autor. Einen ersten Blick auf das Bühnenbild konnte man dabei schon erhaschen. Zu sehen war eine überdimensionale oberbayerische Berglandschaft mit Alm, Wiese und weidenden Kühen – in naiver Weise aufgemalt wie auf einen doppeltürigen Bauernschrank. Nur der obere Teil war mit einem schwarzen Tuch verschleiert, um nicht alles preiszugeben.
Auf der Bühne waren ein einfacher Holztisch und ein ebensolcher Stuhl aufgestellt; daneben ein Beistelltisch mit Requisiten, die im Laufe des Abends zum Einsatz kommen sollten. Gekleidet im sommerlich-hellen Anzug mit T-Shirt und dunkelblauen Turnschuhen erschien Kroetz, begrüßte alle mit einem fast schüchternen “Hallo” und nahm Platz. Mit Vorreden hielt er sich nicht lange auf, sondern begann unmittelbar aus dem weißen, wie es aussah schon viel genutzten, DIN-A4-Skript zu lesen.
Der Plot ist bekannt: Ein bayerischer Sturschädel (71) legt sich mit dem Tod an. Er gibt ihm Kirschgeist zu trinken und bescheißt ihn beim Kartenspiel, um sich so weitere 18 Lebensjahre zusichern zu lassen. Doch das Leben freut das Schlitzohr letztlich nicht mehr sehr, weil seine Enkelin vor ihm stirbt. Am Ende lässt er sich auf das Angebot des “Boanlkramers” ein, ihm einmal das Paradies zu zeigen. Der Brandner bleibt und die himmlische Hausordnung ist wieder im Lot.
Mit den Worten “Do waar i wieda amoi” (Da bin ich wieder einmal) beginnt das Stück. Der “Boanl” spricht sie, als er dem Petrus gleich am Anfang gegenübersteht. Von diesem erhält er die Liste mit den Namen jener Menschen, die demnächst auf Erden das Zeitliche segnen sollen. Während Petrus bei Kroetz bewusst “Hochdeutsch” spricht, um seinem Leitungsanspruch gerecht zu werden, lässt der Dichter den “Tod” sowie alle anderen Protagonisten ein kräftiges, echtes Bairisch reden. Das hat nichts zu tun mit jenem südlichen Kompromiss-Dialekt, der in TV-Serien wegen des bundesweiten Verstehens zu vernehmen ist.
Fast schon vergessene Worte wie “Flitscherl” (abwertender Ausdruck für eine Frau) oder “Ohdrather” für eine Person, die raffiniert, unangepasst und mit allen Wassern gewaschen ist, sind hier wieder zu hören. Eine ganze Litanei von bayerischen Schimpfwörtern kommt selbst Petrus aus dem Mund, wenn er in Rage gerät, weil man eben Wut am besten im Dialekt zum Ausdruck bringt. Kroetz, der selbst schon in der Verfilmung von Joseph Vilsmaier 2008 den “Brandner” dargestellt hat, las und spielte sämtliche Charaktere grandios vor. Man konnte sich gut vorstellen, wie das in der Inszenierung von Philipp Stölzl umgesetzt werden mag.
Bisweilen griff der Dichter auch zur “Kirschgeist”-Flasche und zu den Karten, um die berühmte Szene von Brandner und dem Tod lebendig werden zu lassen. Zudem drückte er ein paar Mal auf eine Hupe, als die Tochter den Vater besuchen kommt. Sie bringt nicht wirklich Zeit mit, weil ihr draußen im Auto wartender Lebensgefährte weiter will. Bekannt wurde Kroetz einst mit sozialkritischen Werken. Auch diesem eher als romantisch bekannten Stück hat er bisweilen einen harten, nachdenklichen Ton verpasst. Als er solche Passagen vortrug, herrschte Stille, so dass er letztlich das Publikum wissen ließ: “Jetzt wird’s wieder lustiger.”
Die Besucher waren am Ende begeistert und feierten den Dramatiker mit viel Applaus. Hier könnte ein neues, etwas anderes Volksstück entstanden sein, das wieder zu einem Dauerbrenner wird. Schließlich sollte es zum Leben dazu gehören, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Das Theater böte dafür eine Möglichkeit.