Artikel teilen:

Experte: Lebensgefahr durch Magersucht wird oft unterschätzt

Magersucht ist laut dem Mediziner Ulrich Voderholzer eine psychische Erkrankung mit einer hohen Mortalitätsrate. Dennoch werde sie von Betroffenen und Angehören häufig unterschätzt, sagte der Ärztliche Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, die auf die Behandlung von Menschen mit Essstörungen spezialisiert ist, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Viele Betroffene – meist sind es Mädchen im Teenager-Alter – hätten lange Zeit nicht das Gefühl, dass sie krank sind und Hilfe benötigen. Eltern stünden in solchen Fällen oft vor einer großen Herausforderung und fühlten sich extrem verzweifelt und hilflos.

Es koste zwar viel Überwindung, einen geliebten Menschen zur Not auch gegen seinen Willen in eine Klinik einweisen zu lassen, betonte Voderholzer. Dennoch sei dies bei magersüchtigen Teenagern manchmal unumgänglich. Er nannte dabei konkrete Anhaltspunkte, die Eltern alarmieren sollten: Haben Betroffene einen Body-Mass-Index (BMI) von unter 15, sei das eine Indikation für eine Klinikeinweisung. „Bei einem Body-Mass-Index von unter 13 läuten die Totenglocken“, sagte der Facharzt für Psychiatrie. Zum Vergleich: Normalgewichtige Menschen haben laut Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO einen Body-Mass-Index von 18,5 bis 24,9.

Entscheiden sich die Eltern, ihr Kind gegen dessen Willen in eine Klinik einweisen zu lassen, so dürften sie dabei kein schlechtes Gewissen haben, mahnte Voderholzer: „Sie tun das Richtige. Wenn man einen Menschen in einem lebensgefährlichen Zustand vorfindet, dann ist es gesetzlich geboten, ihm zu helfen.“ Die Eltern müssten in solchen Fällen den Notarzt verständigen, notfalls sogar die Polizei, sollte sich die betroffene Person vehement weigern oder massiven Widerstand leisten, weil sie ihre Gefährdung nicht erkennen kann. Die Kinder kämen dann in den meisten Fällen wegen ihres kritischen Zustandes zunächst auf die Intensivstation. Sobald sich ihr Zustand stabilisiere, sei eine Weiterbehandlung in einer Spezialklinik möglich.

Ende November hatte das Landgericht Schweinfurt die Eltern einer magersüchtigen Tochter wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen, von einer Strafe aber abgesehen. Die 16-Jährige war kurz vor Weihnachten 2022 infolge ihrer Magersucht verstorben. Eine medizinische Behandlung hatte die junge Frau laut Medienberichten stets abgelehnt. Zuletzt hatte das 1,38 Meter große Mädchen nur noch 19 Kilogramm gewogen, was einem BMI von knapp 10 entspricht. Die Eltern räumten vor Gericht ein, die lebensbedrohliche Situation ihrer Tochter falsch eingeschätzt zu haben. Solche Fälle seien sehr tragisch, aber zum Glück die Ausnahme, sagte Voderholzer.

Sie verdeutlichten jedoch, wie wichtig es sei, frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und gegebenenfalls auch gegen den Willen der Betroffenen zu handeln, sagte Voderholzer. Denn Mangelernährung über einen längeren Zeitraum habe irgendwann Folgen für den Körper. So könne die Regelblutung ausbleiben, das Wachstum eingeschränkt sein, Haare könnten ausfallen und die Knochen brüchig werden. Habe sich die Krankheit verfestigt, kämen Betroffene nur schwer von ihr los. Etwa ein Prozent der Mädchen im Teenager-Alter in Deutschland leidet an einer Anorexia nervosa, damit sind sie zehnmal häufiger betroffenen als Jungen. (00/4070/29.12.2024)