Für den SPD-Politiker Thierse ist das Freiheitsbild oft oberflächlich. Es gehe dabei um eine rein individuelle und auch entsolidarisierte Freiheit ohne Verantwortung.
Für den ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ist das gesellschaftliche Freiheitsbild oft verzerrt und oberflächlich. Die Idee, “Regisseur des eigenen Lebens” zu sein, mache aus den Mitmenschen Assistenten; “Freiheit bekommt auf diese Weise Fetisch-Charakter”, klagte der SPD-Politiker bei der Jahrestagung des Deutschen Ethikrats zum Thema “Gelingende Solidarität” am Mittwoch in Berlin. Jeder müsse begreifen, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehörten. Sonst werde Freiheit zum “Recht des Stärkeren”, warnte Thierse.
“Für viele Menschen gilt, man ist gerne solidarisch, aber bitte freiwillig, spontan und eher auf einen Nahbereich bezogen”, sagte Thierse. Sobald Solidarität den Geruch von Verpflichtung erhalte, nehme die Ablehnung zu. Das sei in der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen deutlich geworden, aber auch in der Debatte über ein Soziales Pflichtjahr. Diese ideologische Überhöhung der individuellen Freiheit und zugleich Ablehnung von Solidaritätspflichten irritiere ihn sehr, sagte der 81-Jährige.
In ausgesprochen dramatischen Situationen gelinge die Solidarität oftmals, führte Thierse weiter aus. Aber Solidarität sei durchaus eine knappe Ressource und Solidaritäten würden auch gegeneinander ausgespielt. Umso größer sei die Bedeutung eines funktionierenden Sozialstaats – “eine große europäische Kulturleistung”. Dieser lebe von der Bereitschaft und Fähigkeit der Bürger, ihn zu tragen und zu finanzieren, erinnerte Thierse. Andernfalls könne Vertrauen verloren gehen.