Thomas Huber, Jahrgang 1966, hat schon früh die Liebe zu den Bergen und zum Klettern entdeckt. Sein Vater nahm ihn und seinen Bruder Alexander bereits als Kinder mit zum Bergsteigen. Bekannt wurden die beiden Brüder durch ihren Kinofilm „Am Limit“. Die „Huberbuam“ zählen zu den weltbesten Bergsteigern und Extremkletterern. Im Gespräch mit Helmut Frank und Claudia Dinges spricht Thomas Huber über Angst und Mut, seinen Glauben und seine Sehnsüchte und Träume.
Welche Rolle spielt Angst bei deinen Extremtouren? Bekommt man in der endlos hohen Eiskletterwand nicht so richtig Angst?
Angst ist ein Urgefühl des Menschen. Man hat Angst vor dem Unbekannten. Man hat Angst um sein Leben. Angst ist ein Gefühl, das einem sagt: Jetzt muss ich aufpassen, jetzt bin ich als Mensch dem nicht gewachsen. Dann kommt eben dieses Angstgefühl, das dir sagt, wenn ich jetzt weitergehe, muss ich 100-prozentig funktionieren. Beim Bergsteigen ist die Angst mein Beschützer, sie zeigt mir meine Grenzen.
Vor einem Jahr bist du am Brendlberg beim Klettern 16 Meter tief abgestürzt. Wie geht es dir heute?
Ich habe das sehr gut bewältigt, auch wenn ich im Moment vielleicht nicht ganz so mutig bin. Aber ich arbeite daran, konfrontiere mich laufend mit dieser Situation. Ich gehe genau dahin und stürze absichtlich ins Seil, damit ich wieder dieses Gefühl der Sicherheit habe. Um das wieder machen zu können, was ich leidenschaftlich gerne tue: klettern und bergsteigen.
Wie war dieser Moment während des Sturzes? Denkt man da noch nach?
Nein, in dem Moment, wenn du stürzt, wenn du fällst, da gibt es keine Ängste mehr, du bist in einer anderen Welt. Jede Sekunde des Falls nimmst du bewusst wahr, und du sagst nur: Wow, wow, wow – und dann ist es schon vorbei. Du sitzt da und schaust nach links und sagst einfach nur: Ja Scheiße, was ist passiert – und dann bist du zurück im Leben. Ich war im Schockzustand. Ich bin – Gott sei Dank – sofort aufgestanden und abgestiegen. Das war mein großes Glück. Wenn die Bergwacht gekommen wäre, vielleicht mit Hubschrauber, hätten sie Bäume herausschneiden müssen, damit sie mich hätten bergen können; dann wäre ich viel später erst ins Krankenhaus gekommen. So war ich zweieinhalb Stunden nach dem Absturz auf dem OP-Tisch. Ich habe schon einen ziemlich brutalen Schädelbruch gehabt, der war zertrümmert auf einer Seite. Dass ich keine Einblutung ins Gehirn gehabt habe, das war mein Glück.
Du bist damals nach einem Monat wieder losgeklettert, trotz Schädelbruchs.
Viele sagen, ich bin getrieben, ich bin wahnsinnig. Sie haben aber nur den Sinn meines Tuns nicht begriffen. Den hat nur meine Familie verstanden und einer meiner besten Freunde. Alle anderen haben mir eigentlich davon abgeraten, wieder loszuziehen. Der Sinn war ein anderer. In dem Moment, wenn du im Krankenhaus liegst, egal mit was, dann brauchst du ein Ziel, was dich wieder zurückholt ins Leben. Du musst nach vorn schauen. Ich hab mir damals gesagt: Ich habe das Flugticket, der Flieger nach Pakistan geht in fünf Wochen, und ich liege hier auf der Intensivstation. Das ist eigentlich eine Unmöglichkeit. Aber ich sage, ich fahre zum Latok, auf diese Expedition. Jeder hat gesagt, das geht nicht. Auch die Ärzte haben gesagt: Thomas, es ist fast unmöglich. Da habe ich gesagt, lasst mich diese Unmöglichkeit angehen. Habt Vertrauen zu mir. Und dann war ich am Latok.
Wo sind dann die Grenzen?
Ich habe ein sehr intensives Gefühl, bevor ich in eine große Wand einsteige. Ich bete da vorher und gehe wirklich in mich.
Was sind das für Gebete?
Das sind Gebete zu mir selber und zu dem, der mich auch irgendwo beschützt und der mir letztlich die Intuition gibt, dass ich das Richtige tue.
Wer ist das für dich?
Ich bin gläubiger Christ und bin ganz normal katholisch aufgewachsen. Ich bin allen Religionen zugewandt. Also wenn ich nach Pakistan gehe, dann heißt es allabah und inschallah, all is god und bismillah. In Pakistan heißt Gott Allah, bei uns heißt er Gott, und bei den Hindus ist es eben irgendwas anderes. Aber letztendlich glauben wir alle an dasselbe, nur haben wir eben verschiedene Sprachen der Religion.
Du hast viele Grenzerfahrungen erlebt, setzt du dich auch mit dem Tod auseinander?
Beim Absturz am Brendlberg, da war der Tod ganz nah bei mir. Ich hatte diesen Moment schon einmal, als ich einen Nierentumor hatte. Du hast einen Tumor, du fährst ins Krankenhaus, du wirst operiert, du hast ein Karzinom, mit einer Lebenserwartung von zwei, drei Jahren. Diese aktive Auseinandersetzung mit dem Tod hat mich schwer beschäftigt. Dann hatte ich das Glück, dass es ein gutartiger Tumor war. Er wurde entfernt, und der Arzt hat gesagt: Thomas, du bist kerngesund, alles ist gut. Das hat mir viel Energie gegeben. Ich finde, das Leben ist einzigartig, das Leben ist einfach unglaublich schön.
Es gab aber auch Situationen, wo Bergkameraden ums Leben kamen.
Nach meinem Absturz bin ich ja nach Pakistan gefahren. Zwei amerikanische Freunde von mir waren schon zwei Wochen länger da, Kyle Dempster und Scott Adamson. Sie waren voll akklimatisiert aus dem Basislager aufgebrochen und wollten die Ogre II-Nordwand durchsteigen. Sie waren gut unterwegs, aber am Gipfeltag ist dann das Wetter schlecht geworden, mit dicken Schneewolken. Ich habe dann die Rettungsaktion angeleiert mit dem pakistanischen Militär, in Zusammenarbeit mit Global Rescue, Freunden und mit den Freundinnen aus Amerika. Ich habe mit denen ständig telefoniert, und ich bin dann, als das Wetter besser war, mit dem Hubschrauber mitgeflogen, weil ich den Berg sehr gut kenne. Wir waren bis auf 7200 Meter mit dem Hubschrauber, haben aber von den beiden nichts mehr gesehen. Am Ende war klar, dass sie nicht mehr zurückkommen werden. Wir haben auch nichts von ihnen gefunden, keine Spur, rein gar nichts.
Es gab keine Hoffnung?
Nein, wahrscheinlich war es eine Lawine, ich habe keine Ahnung. Auf jeden Fall musste ich dann die Nachricht übermitteln, dass die zwei nicht mehr kommen. Ich habe dann den Schmerz gespürt und auch der Mutter gesagt, dass ihr Sohn nicht mehr kommt. Sie hat dann nur noch gesagt: „Wie sieht der Berg aus, Thomas? Ist der Berg wenigstens schön, wo mein Sohn jetzt ist?“ Dann habe ich gesagt: „Das ist ein stolzer Berg, ein schöner Berg.“ Und sie hat gesagt: „Ich bin dankbar, dass es ein schöner Berg ist.“ Ich habe dann mit den Skiern von Kyle und Scott ein Kreuz gemacht und ein Gebet gesprochen. Dann bin ich nach Hause gefahren und habe meine Familie in den Arm genommen.
Das war alles nur wenige Wochen nach dem eigenen Sturz.
Ich habe dann plötzlich gemerkt: Ich bin da. Ich bin noch am Leben. Dann bin ich an die Absturzstelle gegangen, gleich ums Eck bei uns, das erste Mal nach meinem Unfall. Zu meiner Frau habe ich gesagt: Das muss ich ganz alleine erleben. Dann bin ich da allein hingegangen. Ich habe solches Herzklopfen gehabt. Ich bin genau an die Stelle, wo ich gelandet bin. Dann habe ich mich hingesetzt, die Sonne hat reingeschaut, dann habe ich raufgeschaut, und dann hing noch das Seil dort, wo ich durchgeseilt bin, weil es ja zu kurz war.
Ich bin dann auf der anderen Seite das Fixseil hoch, das ich damals ausgehängt hatte. Ich hatte Angst gehabt, war ohne Mut. Da war dieses negative Gefühl: Hoffentlich hält das Seil, ich will nicht, dass es wieder einfach so runtergeht. Und dann habe ich mich ins Projekt wieder reingehangen, und genau an der Stelle vorbei, wo es passiert war. Ich hab nach unten geschaut und dann erst begriffen, was 16 Meter sind, Kopf voraus mit Salto, eigentlich dürfte ich nicht mehr leben. Ich glaube, dass in dem Moment jemand da war, der mich im Fallen geführt hat. Irgendwas wollte, dass ich noch lebe.
Was hat sich dann geändert?
Ich bin dann runtergegangen und habe gesagt: Thomas, bist du wirklich am Leben? Ja, ich lebe. Dann habe ich für mich etwas gemacht, und das ist das Allerwichtigste: Ich habe das alles dankbar angenommen. Seitdem habe ich keine Albträume mehr von Stürzen. Ich habe auch gemerkt, dass sterben nicht schwer ist. Mir wurde wichtig: Lebe das Leben, denke nicht so sehr an den Tod.
Jeder muss sterben.
Aber das Entscheidende ist, dass du das Leben jetzt lebst. Der Tod kommt von selbst. Wir müssen alle mal sterben. Wenn du Angst hast vor dem Tod, hast du Angst vor dem Leben. Also, der Tod kommt von selbst, so lebe das Leben und lebe es einfach jetzt und intensiv. Lerne aus der Vergangenheit für das jetzige Leben und habe vielleicht einen Plan für die Zukunft, aber lebe nicht für die Zukunft. Habe nur einen Plan. Aber wer ständig für die Zukunft lebt, der lebt in keiner Sekunde. Das ist das, was ich mir über das Ganze zurechtgelegt habe. Der Tod ist nur deshalb hart, weil du was hinterlässt. Bei mir sind es eine tolle Frau, drei unglaubliche Kinder und gute Freunde. Es lohnt sich, noch da zu sein.