Die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Bayern nimmt weiter zu. „2024 war ein einschneidendes Jahr. Wir haben so viele antisemitische Vorfälle wie nie zuvor dokumentieren müssen“, sagte die Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern), Annette Seidel-Arpaci, laut Mitteilung vom Montag. Im vergangenen Jahr seien 1.515 Meldungen eingegangen – fast doppelt so viele Fälle wie 2023, als 761 Fälle gemeldet worden seien. 80 Prozent aller Vorfälle hätten sich durch israelbezogenen Antisemitismus ausgezeichnet. Ein extremer Fall seien die Schüsse auf das israelische Generalkonsulat und das NS-Dokumentationszentrum in München am 5. September 2024 gewesen.
Ein Drittel aller Vorfälle von 2024 hat sich laut RIAS-Bericht bei Versammlungen ereignet, von denen der Großteil dem antiisraelischen Aktivismus zugerechnet wurde. Die Zahl der gemeldeten körperlichen Angriffe sei von acht auf 15 gestiegen, die der gezielten Sachbeschädigung von 32 auf 50 und die der Massenzuschriften von 24 auf 65. Nur die Zahl der Bedrohungen ging zurück – von 32 auf 30. 1.354 Vorfälle wurden als verletzendes Verhalten eingestuft, dazu zählen laut RIAS Direktnachrichten, E-Mails oder Versammlungen. In 343 Fällen seien jüdische oder israelische Institutionen oder Einzelpersonen direkt adressiert worden.
Der sprunghafte Anstieg der gemeldeten Vorfälle begann nach dem 7. Oktober 2023, als die palästinensische Terrororganisation Hamas Israel angriff, rund 1.200 Menschen tötete und mehr als 250 als Geiseln verschleppte, von denen sich noch immer Dutzende in den Händen der Hamas befinden. Die massenhafte antisemitische Agitation auf den Straßen und im Internet seit dem 7. Oktober 2023 habe viele Jüdinnen und Juden auch in Bayern tief getroffen, sagte Seidel-Arpaci. Mangelnde Empathie ihnen gegenüber habe viele jüdische Menschen weiter verunsichert.
Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) zeigte sich erschüttert von den Zahlen. „Es ist nicht zu ertragen, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in Angst leben müssen und bedroht werden.“ Sie sei entsetzt, wie tief verwurzelt der Antisemitismus sei und immer offener zu Tage trete, sagte Scharf, die auch Schirmherrin des Vereins für Aufklärung und Demokratie (VAD, Träger von RIAS Bayern) ist. Sie rief zu einer klaren Haltung sowie einem mutigen und entschlossenen Handeln gegen Juden- und Israelhass auf.
Der bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle sagte: „Wir können dieser Entwicklung nicht tatenlos zuschauen, der wehrhafte Rechtsstaat ist zu handeln gefordert.“ Er sei dankbar, dass Polizei und Justiz ein waches Auge bei Antisemitismus hätten, auch die Gesellschaft müsse genau hinschauen und Solidarität mit Jüdinnen und Juden üben.
Im Jahr 2024 habe es bayernweit 938 neue Ermittlungsverfahren und 237 Verurteilungen wegen antisemitisch motivierter Straftaten gegeben, teilte das bayerische Justizministerium am Montag mit. „Jeder Fall ist einer zu viel“, sagte der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU). Der Rechtsstaat müsse klare Grenzen setzen und Jüdinnen und Juden schützen. Polizei und Staatsanwaltschaften schritten bei jedem Anfangsverdacht von Straftaten wie Volksverhetzung oder der Billigung von Straftaten ein, sagte Eisenreich.
Die Rabbiner Avichai Apel, Zsolt Balla und Yehuda Pushkin, die den Vorstand der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) bilden, teilten mit, dass die „explodierenden Zahlen“ mehr als alarmierend seien. „Es ist fünf vor zwölf für jüdisches Leben in Deutschland.“ Der grassierende Antisemitismus sei absolut toxisch für die Demokratie und die Freiheit aller.
Talya Lador-Fresher, Generalkonsulin des Staates Israel für Süddeutschland, verurteilte nach dem 7. Oktober 2023 eine Täter-Opfer-Umkehr auf den Straßen und im Internet. Es seien Jüdinnen und Juden gewesen, die Opfer eines katastrophalen Massakers geworden seien. Jessica Flaster, Vorsitzende des Verbands jüdischer Studenten in Bayern (VJSB), sagte, dass ihr der wachsende Antisemitismus Sorge bereite. An bayerischen Universitäten herrsche ein „Klima der Angst“, viele jüdische Studierende zögen es vor, Online-Lernangebote zu nutzen und ihre jüdische Identität auf dem Campus zu verbergen. Es gleiche einem Wagnis, als jüdisch erkennbar zu sein. (1423/28.04.2025)