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„Erwachsensein geht anders“

Viele Erwachsene bleiben in kindlichen oder kindischen Verhaltensweisen stecken – so die Beobachtung Michael Winterhoffs. In welcher Weise sich das auf die Gesellschaft auswirkt, beschreibt der Kinderpsychiater in seinem neuen Buch

nicoletaionescu - Fotolia

„Was für ein Kindergarten…“ – dieser entnervte Satz fällt immer wieder, wenn in Behörden, Unternehmen oder Vereinen Projekte ins Stocken geraten oder Menschen auf Kleinigkeiten bockig reagieren. Wohin es führt, wenn vermeintlich erwachsene Menschen in kindliche und kindische Verhaltensmuster zurückfallen oder ihnen noch gar nicht entwachsen sind, schildert der Kinderpsychiater Michael Winterhoff in seinem neuen Buch. Was dabei zu denken gibt – es handelt sich um ein weit verbreitetes Phänomen.

Kindisches Verhalten kostet viel Nerven und Energie

Bei Heranwachsenden ist kindisches Verhalten normal, kritisch wird es, wenn es Erwachsene zeigen. Winterhoff nennt das Beispiel einer Firma, bei der sich ein gehandicapter Mitarbeiter einen Behindertenparkplatz in der Nähe des Eingangs wünschte. Statt die Sache unbürokratisch und mit gesundem Menschenverstand zu regeln, wurden schließlich sogar Gerichte bemüht. Es sei „eine Wahnsinns-Energie“ mit Stellungnahmen und Klageschriften aufgewandt worden, ohne das Problem am Ende zu lösen.
Winterhoff beobachtet eine weit verbreitete „Ansammlung von meist überlasteten, überforderten Menschen, die nicht mehr wissen, wo oben und unten ist“. Seine provozierende These: Die Diagnose der allgemeinen Überforderung sei ein „Mythos“ – das eigentliche Problem seien nicht die äußeren Umstände, sondern jeder Einzelne, dem es an der nötigen Reife und Souveränität fehle.
Der Bonner Kinderpsychiater nennt als Beispiel die Aufschieberitis und „Verschleppungstaktik“, wie sie in vielen Behörden zu beobachten ist. So würden Anträge hin und hergeschoben, man entledige sich ihrer durch Rückfragen, verliere sich in unnötigen Details. Mit jedem Projekt, das nicht abgeschlossen werde, häufe sich immer mehr Unerledigtes an. Deshalb fühlten sich die Beschäftigten subjektiv auch „völlig überfordert“. Nötige Entscheidungen würden verschoben, wegdelegiert, gar nicht oder zu spät getroffen. Wirres und ineffektives Agieren stellt Winterhoff aber nicht nur bei Einzelnen, sondern auch in der Gesellschaft fest. „Wie ein schleichendes Gift hat sich in allen Lebensbereichen die durch Überforderung ausgelöste Ineffektivität breitgemacht.“ Die Folge: Statt sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und Verantwortung zu übernehmen, resignierten viele, suchten Wellness-Oasen und ferne Länder auf, um dem Leben, dem man sich nicht mehr gewachsen fühlt, zu entkommen.
Hinzu komme die aktuelle Tendenz, auf ein gutes Image bedacht zu sein; Enttäuschungen und Rückschläge passen nicht zu diesem narzisstischen Prinzip. Der Autor nennt das Beispiel der Ortsgruppe einer Freiwilligen Feuerwehr, die geschlossen den Dienst quittierte, weil sie nur eine vermeintliche Billigvariante eines neuen Löschfahrzeuges bekommen sollte. Die gestandenen Wehrleute interpretierten dies als fehlende Wertschätzung und zogen sich schmollend zurück – auch wenn sie damit die Sicherheit des ganzen Dorfes gefährdeten.
Wer so auf Äußerlichkeiten bedacht sei, laufe Gefahr, sich zunehmend von Trends und dem Mainstream manipulieren zu lassen – „Erwachsensein geht anders“. Auch der Trend, sich coachen zu lassen, gehört für Winterhoff in diese Entwicklung: „Nicht entscheiden müssen. Wieder Kind sein.“
Für ebenso bedenklich hält der Kinderpsychiater das weit verbreitete maßlose Anspruchsdenken. Säuglingsgleich werde erwartet, dass der Hunger nach Konsum, nach Zuwendung und Linderung sofort gestillt wird. „Weil uns quasi unbegrenzte Möglichkeiten zur Verfügung stehen, ist Verzicht zum Fremdwort geworden.“ Werbung und Rund-um-die-Uhr-Einkaufsmöglichkeiten im Internet fördern diese Haltung noch. Maßlosigkeit zeigt sich auch darin, dass Menschen mit ihren Wehwehchen in die Notaufnahme des Krankenhauses gehen, statt auf einen Facharzttermin zu warten. Oder sich um aufwendigere Gymnastik drücken, wenn der Arzt mit einer OP die Beschwerden schnell lindern kann.

Viele Eltern bleiben selbst „ewige Kinder“

Die fehlende Bereitschaft, sich anzustrengen und abzuwarten, wirkt auf Winterhoff wenig erwachsen. Dabei müssten nicht nur Kinder dies lernen. „Wer nach dem Lustprinzip lebt, kann nicht lernen.“ Wie sehr der Nachwuchs unterfordert wird, zeigt der Kinderpsychiater an einem simplen Beispiel auf: Heute gibt es kaum noch Kinderschuhe mit Schnürsenkeln – fast alle haben Klettverschlüsse.
Dadurch, dass viele Eltern selbst „ewige Kinder“ geblieben seien und nicht über die nötige innere Stabilität verfügten, falle ihnen auch die Erziehung ihres Nachwuchses schwer. Wer selbst bedürftig sei und geliebt werden wolle, könne die Elternrolle nicht angemessen ausfüllen.
Winterhoff kommt zu dem Schluss, dass nicht die Welt härter und fordernder geworden ist – „wir selbst sind schwächer geworden“. Als Reaktion auf die steigenden Anforderungen und Informationsflut sei es leichter, sich in eine Kinderwelt zurückzuziehen, als die Erwachsenenperspektive einzunehmen und besser für sich zu sorgen. KNA

Michael Winterhoff: „Überforderung. Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten“. Gütersloher Verlagshaus, 256 Seiten, 19,99 Euro.