Der Mensch ist per se ein verletzliches Wesen. Das gilt in besonderer Weise in der Medizin: Krankheiten oder schwere Diagnosen können erschüttern. Darauf weist der Freiburger Medizinethiker, Giovanni Maio, in seinem vor kurzem erschienenen Buch „Ethik der Verletzlichkeit“ (Herder Verlag) hin.
Maio, der selbst lange Jahre als internistischer Arzt tätig war, befasst sich als Philosoph mit den Grundvoraussetzungen guter Medizin. In seinen Ethik-Vorlesungen, welche seit 2004 Pflichtveranstaltungen des Medizinstudiums sind, lehrt er die Studierenden, dass sie „neben dem technisch-naturwissenschaftlichen Zugang eine Grundreflexion der menschlichen Existenz brauchen“, sagte Maio im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
„Medizin ohne Zwischenmenschlichkeit ist keine Medizin“, ist der Autor überzeugt. Ärzte müssten darüber nachdenken, was ein gutes Leben sei, was ein gutes Sterben sein könne, wie man der Menschenwürde gerecht werde oder was die Unverfügbarkeit des Menschen bedeute. Dies gehört für ihn unabdingbar zum Berufsbild des Arztes. Maio plädiert für eine „Praxis der Sorge“ in der Medizin. „Man muss sich kümmern wollen um den anderen“, so seine Überzeugung.
Vor dem medizinischen Eingriff, der Verordnung oder der Operation steht laut dem Experten das Gespräch. „Gerade, wenn es um existenzielle Fragen geht, dürfen wir uns nicht darauf beschränken, zu fragen ‘Was ist Ihr Wunsch?’“, sagt Maio. Stattdessen sei es Aufgabe der Medizin, zu überlegen, „wie wir dem Menschen helfen können, aus der Krankheitskrise heraus- und neue Orientierung zu finden“, erläuterte er.
Verletzlichkeit im anthropologischen Sinne bedeute, dass der Mensch angewiesen sei auf andere und auf gute Beziehungen zu anderen. Gesehen werden, gehört werden, verstanden werden, ja Anerkennung zu erhalten, seien die Basis dafür, um als verletzliches Wesen bestehen zu können. Dies anzuerkennen sei keine Infragestellung der Autonomie, sondern sie stelle vielmehr die Voraussetzung dar, um anderen Menschen zur Autonomie zu verhelfen.
„Wir sind nicht einfach autonom, wir sind in unserer Autonomie zugleich verletzlich“, ist der Philosoph überzeugt und führt weiter aus: „Wir können jederzeit, auch als autonome Menschen, durch Krisenerfahrungen und Schicksalsschläge erschüttert und dadurch in unserer Souveränität angetastet werden.“ Selbstbestimmtheit und Verletzlichkeit seien somit keine Gegensätze.
In der Medizin wird dieser Zusammenhang oft übersehen. Der Patient muss – zur rechtlichen Absicherung des Arztes – unterschreiben, dass er über „Risiken und Nebenwirkungen“, mögliche Folgen und Schäden einer Behandlung aufgeklärt wurde. Die Unterschrift steckt den rechtlichen Rahmen ab. Ob der Patient gut mit den Informationen umgehen kann, ist damit nicht gesagt.
„Durch das, was sie herausfindet, kann die Medizin die Menschen in eine prekäre Lage bringen“, betont der Ethiker. Eine Medizin allerdings, die sich auf das rein Formale zurückziehe und sich als reine Dienstleistungsanbieterin auf einem Gesundheitsmarkt verstehe, fehle das Bewusstsein dafür. „Das, was jetzt geschieht in der Medizin, ist eine Medizin, die ihrem Grundauftrag nicht gerecht wird.“
Medizinstudentinnen und -studenten seien offen für eine mitmenschliche Medizin und hätten eine „pro-soziale“ Einstellung, sagt Maio. Sie wollen etwas für Menschen tun und stehen den gegenwärtigen Strukturen des Gesundheitssystems kritisch gegenüber. Der Blick auf die Verletzlichkeit ist somit auch ein Plädoyer dafür, den zwischenmenschlichen Charakter der Medizin zu unterstreichen. (1732/31.07.2024)