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Erblindet – und doch voller Pläne für ein selbstständiges Leben

Nicht mehr sehen zu können – das ist wohl für jeden eine beängstigende Perspektive. In Marburg lernen erblindete Menschen, sich im Leben neu zurechtzufinden.

Irgendwo hier muss doch die Tür sein. Vorsichtig tastet Christian Paulmann die breite Glasfront am Eingang des Gebäudes auf dem Campus der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) ab. Noch am Vortag war der 54-Jährige dort im Kraftraum, nun möchte er selbstständig den Weg dorthin finden. Doch die Scheiben geben dem 2023 erblindeten Mann keine Informationen. “Was ist denn typisch für eine Tür?”, fragt Mobilitätstrainerin Anja Tilse. “Eine Klinke”, sagt Paulmann und tastet weiter. “Und was noch?”, hakt Tilse nach. “Ein Scharnier”, antwortet Paulmann. Schließlich findet er dieses – und wenig später auch den Türgriff auf der gegenüberliegenden Seite.

Noch im Dezember 2022 hatte Paulmann eine Sehleistung von 100 Prozent. “Ich hatte nie was mit den Augen”, erklärt der hochgewachsene Wiesbadener. Doch dann löste sich seine Netzhaut an beiden Augen ab, es folgten 13 OPs und Laserbehandlungen. Bei 80 Prozent der Patienten würde das helfen, bei ihm nicht. Die Zellen auf seiner Netzhaut starben ab, “nach zehn Monaten kam ich auf zwei Prozent Sehfähigkeit”. Nur auf einem Auge kann er noch etwas Licht sehen, “für mich ist immer Abend”. Seitdem muss sich der Projektmanager neu im Leben zurechtfinden. Derzeit absolviert er eine sechsmonatige Schulung in der blista in Marburg und lernt unter anderem, sich mit dem Blindenstock frei zu bewegen.

Gut ein Dutzend erblindeter Menschen aus ganz Deutschland werden dort jedes Jahr im Rahmen der Blindentechnischen Grundreha (BTG) auf ein Leben ohne Augenlicht vorbereitet. Die blista ist eine von wenigen Einrichtungen bundesweit, die dies anbietet. Zu den Absolventen der Reha-Maßnahme zählen junge Leute und Erwachsene, die durch einen Unfall oder Diabetes erblindet sind, Menschen mit früher Altersblindheit oder solche mit Tumor- oder Augenerkrankungen.

Zu ihnen gehört auch Miguele D’Urso. Der Offenburger hat die sich verschlimmernde Augenkrankheit Renititis pigmentosa. “Ein Arzt hat mir mal gesagt: Sie haben Zeit zu erblinden”, erinnert sich der 49-Jährige. Mit 18, 19 Jahren habe er noch den Führerschein gemacht und nach der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann mit Freude bei einem Herrenausstatter gearbeitet. Für seine Krankheit typisch sei eine Art Tunnelblick, das Sichtfeld werde immer kleiner, erläutert D’Urso. Schließlich sei der Tunnel immer enger geworden, er sei immer wieder über Dinge gestolpert und habe nicht mehr in seinem Beruf arbeiten können.

Nun sitzen Paulmann und D’Urso gemeinsam bei IT-Ausbilder Sascha Walbrecht in dem kleinen EDV-Raum. Denn beide möchten bald wieder arbeiten – Paulmann als Projektmanager mit Dienstreisen, D’Urso nach einer Umschulung als Masseur oder IT-Fachmann. Walbrecht vermittelt Basiswissen im Umgang mit dem PC, verschiedenen Programmen und Künstlicher Intelligenz. Der 49-Jährige D’Urso findet sich nach einem halben Jahr schon gut auf seinem Rechner zurecht. Paulmann dagegen muss sich in seiner ersten Stunde erst einmal mit Hilfe einer gesprochenen, auf den Kopfhörer übertragenen Software und einer weiteren Brailleschrift-Tastatur zurecht finden.

Eine große Umstellung, denn der 54-Jährige ist die Mac-Tastatur gewöhnt. Und wie findet man dort überhaupt die richtigen Buchstaben? “Auf dem ‘f’ ist ein kleiner Plastikstrich, und das d liegt links davon”, erklärt Walbrecht. Paulmann erfährt, dass sich beim Antippen des “w” und einer weiteren Taste das Word-Programm öffnet. Sein kleines Erfolgserlebnis am Ende der Stunde: “Ich hab’ das ‘t’ gefunden”.

Paulmann blickt nach vorn. Nach den vielen fehlgeschlagenen Operationen habe er seine neue Lebenswirklichkeit schnell akzeptieren können. Im Internet machte er sich kundig, beantragte Pflege- und Blindengeld. Er habe gemerkt: “Jetzt muss ich umschalten und überlegen, wie komme ich als Blinder klar.” Seine Erfahrung: “Man wächst daran, dass man sich stellt”.

Umso glücklicher ist er, dass ihm die BTG-Maßnahme genehmigt wurde – ein “Trainingslager”, wie er sagt. Auf dem Stundenplan von Paulmann und D’Urso: Haushaltsführung, Orientierung im städtischen Umfeld mit dem Blindenstock und das Lernen der sogenannten Braille-Blindenschrift. Im Punktschriftraum wartet schon Sandra Schröter auf D’Urso. Sie ist von Geburt an blind und hat auf dem blista-Campus in dem angeschlossenen Gymnasium ihr Abitur gemacht.

Heute liest der 49-Jährige erste Sätze in Brailleschrift an einem speziellen Gerät. In den Monaten zuvor hat er bei seiner Lehrerin zunächst auf Papier die Punktschrift gelernt. Je nachdem, wie die sechs Punkte angeordnet sind, ergibt sich ein anderer Buchstabe, der mit den Fingerkuppen ertastet wird. Das alles braucht Zeit, nicht nur bei dem früheren Herrenmodenverkäufer. “Drei Mal 90 Minuten in der Woche – das ist eine enorme kognitive Belastung”, findet auch Christian Paulmann.

Manchmal dauert die Unterrichtsstunde auch länger, sagt Schröter. Neulich erst habe eine Person kurz zuvor erfahren, “dass sie durch einen Tumor erblinden wird”. Da sei die 49-jährige, blinde Pädagogin auch als Zuhörerin und Beistand gefragt gewesen. Denn manch einer sei durch die für ihn niederschmetternde Diagnose aufgelöst und am Boden zerstört.

Christian Paulmann hat indes seinen Frieden mit der Blindheit gemacht. Durch sie habe er auch seine Resilienz kennengelernt. Sein Glaube habe ihm geholfen, die Erblindung zu akzeptieren. “Der liebe Gott hat mich auf ein anderes Level gesetzt – so Christian, jetzt lernen wir mal Demut.” Hadern tut er mit seinem Schicksal nicht, “das ist halt so”, andere Menschen bekämen Krebs. Blindheit sei zumindest nicht tödlich, stellt er fest. Trotz bester Ärzte sei sie nicht zu verhindern gewesen.

“Das ist mein Weg, ich habe eine tolle Ehefrau und Kinder – kein Grund, das Leben wegzuwerfen, es könnte schlimmer sein.” Inzwischen blickt er als “Neublinder” auch mit Humor auf sein Los – und spürt die Unsicherheit, die er damit mitunter auslöst. “Wieso ist der denn so fröhlich? Der ist doch blind…” In Marburg habe er Menschen kennengelernt, “die viel schlechter dran sind als ich”. Er brauche kein Mitleid – “das hier bedeutet: Ich will klarkommen”, sagt Paulmann bestimmt.

Fortan als blinder Mensch zu leben, bedeutet für ihn: “Ich brauche neue Lösungen”. Bei Elmar Brathe lernt er beispielsweise, Heißgetränke richtig einzuschenken, ohne sich zu verbrühen oder ein Wasserglas nicht zum Überlaufen zu bringen. Oder so zu essen, “dass man sich draußen nicht blamiert”. Von Brathe erfährt er auch, wie er immer passend gekleidet ist – indem er beispielsweise Dinge trägt, die farblich gut miteinander kombiniert werden können. “Ich habe meine Kleidung vereinfacht – es muss passen, angenehm und bequem sein”, sagt Paulmann pragmatisch.

Zu Beginn seiner Erblindung habe der technikaffine Wiesbadener gedacht: “Ich werd’ sofort die Technik einsetzen, sonst bin ich verloren”. Als Beispiel nennt er eine KI-Brille, die Texte vorlesen, die Umgebung beschreiben und übersetzen kann. Über eine Internet-Community kam Paulmann aber in Kontakt mit einer erblindeten Frau, die inzwischen ein großes Vorbild für ihn ist. “Sie kann alles ohne technische Hilfsmittel.”

Das spornt auch Paulmann an. Die alltagsnahen Schulungen rund um den Haushalt und die Orientierung im Alltag sind für ihn “super hilfreich”. Schließlich möchte Paulmann, ein Macher-Typ, möglichst schnell “autonom werden”. Sein Training mit Mobilitätstrainerin Anja Tilse sei anstrengend, aber gut, “weil sie Gas gibt und ich aus Fehlern lernen kann”. Und deshalb ist auch nach Unterrichtsende für den 54-Jährigen noch nicht Schluss. Auf eigene Faust zieht er mit seinem Blindenstock los, um in der Stadt den nächsten Supermarkt zu finden.