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Engel spricht Gebärdensprache

Für Kalle und Annemarie ist es ein Segen, dass Altenpflegerin Nadine Lückheide Gebärdensprache kann. Die Diakonie-Schwester hat einen Sprachkurs besucht – wegen der Patienten. Aber auch wegen ihrer Mutter, die gehörlos ist

Kalle ist aufgeregt. Da stand plötzlich ein Taxifahrer in der Wohnung. Den hatte doch niemand bestellt. Und er wollte auch gar nicht mehr gehen. Kalle fürchtete, das sei kein Taxifahrer, sondern ein Einbrecher. Der könne doch nicht einfach in die Wohnung kommen.
Das alles erzählt er seiner Betreuerin, als Nadine Lückheide gerade dazukommt. Die Betreuerin kann nicht so recht nachvollziehen, was da passiert ist. Kalle (65) und seine Schwester Annemarie (66) sind gehörlos. Sie leben in einem Mehrgenerationenhaus in Herford.

Sprachkenntnisse entspannen die Situation

Aber Nadine Lückheide kann weiterhelfen. Die Altenpflegerin arbeitet bei der Diakoniestation II in Herford und versorgt auch die pflegebedürftigen Geschwister. Nadine hat kürzlich einen Sprachkurs beendet: Sie hat Gebärdensprache gelernt. Sie lässt sich von Kalle alles nochmal erzählen. Er wird ruhiger. Es wird klarer, was vorgefallen war. Es gibt ein Taxiunternehmen, das Kalle und Annemarie fährt – wenn sie zum Arzt müssen oder andere Termine haben. Es klingt so, als sei dort auch ein Schlüssel hinterlegt. Das erklärt auch, wie der Fahrer in die Wohnung gekommen ist. Die Betreuerin verspricht beim Taxiunternehmen nachzufragen und sich anschließend zu melden. Dann verabschiedet sie sich.
Nadine Lückheide hilft erst einmal Annemarie beim Gang zur Toilette. Zweimal pro Woche ist bei Annemarie die große Pflege dran – mit duschen, Haare waschen und eincremen. „Sonst täglich die kleine Pflege und auch mal Bewegungsübungen“, erklärt die 25-Jährige. Annemarie braucht einen Rollator zum Fortbewegen. Kalle ist fitter als seine Schwester. Er ist gut zu Fuß. Bei ihm fällt nicht so viel Pflege an. „Einmal die Woche duschen, ansonsten sorge ich bei beiden auch dafür, dass sie ihre Medikamente nehmen.“
Zufrieden kommt Annemarie aus dem Bad und schlurft zur Couch. Sie lehnt sich zurück und macht es sich bequem. Nun ist ihr Bruder dran. Nadine erklärt ihm mit wenigen Bewegungen, dass er sich bereits ausziehen und ins Bad gehen soll. „Die Gebärdensprache zu beherrschen ist schon sehr hilfreich“, sagt Nadine. Allerdings hat sie außer dem Geschwisterpaar keine weiteren Patienten, die gehörlos sind.
Doch Nadine hat einen weiteren Grund, warum sie die Gebärdensprache gelernt hat: „Meine Mutter ist gehörlos“, sagt sie. „Sie kann gut von den Lippen ablesen und hat auch sprechen gelernt. So kamen wir immer gut zurecht. Aber mir war es jetzt trotzdem wichtig, die Sprache meiner Mutter zu beherrschen.“
Von ihrer Mutter und deren gehörlosen Freunden und Bekannten weiß Nadine außerdem, dass es gehörlosen Menschen schwerfällt, Hilfe wie etwa einen Pflegedienst anzufordern. „Weil sie sich vor der Kommunikation scheuen. Es ist einfach doof, wenn man sich nicht verständlich machen kann.“ Nadine hofft, dass sich im Laufe der Zeit vielleicht mehr gehörlose Menschen bei der Diakonie melden, wenn sie wissen, dass da jemand ihre Sprache kann.
Kalle wartet bereits auf sie und so eilt Nadine in das kleine Bad. Während sie ihn duscht, redet sie weiter und erklärt, dass sie ihre Arbeit liebt. Nach Praktika in verschiedenen sozialen Bereichen hat sie sich für die Altenpflege entschieden. „Das hat mir einfach am meisten Spaß gemacht“, erzählt sie. „Das Lachen, die Freude der Menschen, wenn man ihnen hilft – das finde ich großartig.“ Deswegen erfülle sie ihr Beruf. „Neulich hat einer zu mir gesagt: ,Sie sind ein Engel.‘ Das ist doch toll, oder?“ Nadine Lückheide sagt von sich selbst: „Ich habe ein Helfersyndrom, mindestens ein kleines.“

Tätigkeiten zum Reden unterbrechen

Dazwischen bedeutet sie Kalle immer wieder, was er tun soll – hinsetzen zum Haare waschen, aufstehen, rumdrehen. Er lobt Nadine: „Sie macht das gut“, sagt er. Abtrocknen kann er sich allein. Dann cremt ihn Nadine noch ein. Er strahlt sich an und es ist deutlich zu sehen, dass er es genießt. Immer wieder mal stellt Nadine Lotion zur Seite und unterbricht kurz ihre Tätigkeit. „Ich brauche ja meine Hände zum Reden“, sagt sie. Die Altenpflegerin lobt Kalle – „er ist ein angenehmer Patient, macht gut mit“. Als sie zum Deo greift, hebt er schon seine Arme. Dann zieht er sich an.
Nadine schaut sich nach Annemarie um, unterhält sich mit ihr, während sie die Medikamente richtet. Kalle kommt dazu und die drei sitzen auf dem Sofa und unterhalten sich. Kalle und Annemarie freuen sich, dass sie von Nadine versorgt werden, wann immer es möglich ist. Doch gelegentlich hat sie frei, dann kommt jemand von ihren 27 Kolleginnen und Kollegen, die alle zur Diakoniestation Herford II gehören.
Für heute verabschiedet sich Nadine von den Geschwistern. Sie geht zu ihrem kleinen weißen Diakonie-Flitzer und macht sich auf zum nächsten Patienten.