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Endlich im Augenblick leben

Einen Tag nach dem Welthospiztag startet die evangelische Kirchengemeinde Herrsching am Ammersee (Landkreis Starnberg) am Sonntag (12. Oktober) eine Predigtreihe mit dem Titel „Endlich leben“. Christine Bronner, Gründerin der 2005 ins Leben gerufenen Stiftung „Ambulantes Kinderhospiz München“, hält die Kanzelrede zum Auftakt. Sie und ihr Mann haben Anfang der 2000er-Jahre selbst zwei Kinder verloren: einen Sohn in der Schwangerschaft und eine Tochter als Frühchen kurz nach der Geburt. „Endlich leben“ heißt für Bronner: Familien mit schwerstkranken Kindern entlasten – und sich selbst ein Gespür für den Augenblick bewahren.

epd: Frau Bronner, Ihre Kanzelrede steht unter der Überschrift „Endlich leben“ – woran denken Sie dabei?

Bronner: An die Patienten, mit denen ich zu tun habe: „Endlich leben“ können diese Familien, wenn sie die richtige Hilfe bekommen und entlastet werden. Für die Kinder, die wir betreuen, bedeutet das, dass sie optimal versorgt werden und sich – sofern sie schon älter sind – nicht als Belastung empfinden müssen. Für Eltern heißt es, dass sie wieder Dinge tun können, die in der Rundum-Betreuung eines schwerkranken Kinds eben nicht möglich sind: Eine Fortbildung für die Arbeit besuchen, das gesunde Geschwisterkind zum Sportverein begleiten, gemeinsam einen Ausflug machen.

epd: Was brauchen Eltern von todkranken Kindern – und was nicht?

Bronner: Sie brauchen kein Mitleid, das schadet eher. Aber sie brauchen Mitgefühl, Respekt für ihre Situation, Hochachtung vor dem, was sie leisten, Wertschätzung und Achtsamkeit im Umgang mit ihrer ganzen Familie. Denn sie sind selbst die Experten für ihre Lebenssituation, auf sie müssen wir hören. Und ihnen dann eine multiprofessionelle Betreuung ermöglichen: Sozial- und Pflegeberatung leisten, durch den Behördendschungel führen, in der Pflege entlasten, medizinische und therapeutische Versorgung, psychosoziale Arbeit und pädagogisches Wirken bieten. Wenn sie das bekommen, zerbrechen diese Familien nicht, sondern bleiben stark und kommen mit der Situation, in die sie geworfen sind, deutlich besser zurecht.

epd: Viele Menschen verdrängen einerseits den Tod, nehmen sich aber in der Hektik des Alltags auch keine Zeit zur bewussten Lebensgestaltung. Wie kriegt man „endlich leben“ besser hin?

Bronner: Wir müssen uns nicht ständig daran erinnern, dass wir einmal sterben – das wäre nicht sehr gewinnbringend. Aber wir wissen nicht, was morgen passiert oder in einer Stunde. Deshalb sollten wir wahrnehmen, was jetzt gerade kostbar ist – weil das Leben endlich ist. Um das zu üben, empfehle ich manchmal folgenden Trick: Ich stecke fünf Kastanien in meine linke Hosentasche, und immer, wenn ich etwas für den Augenblick schön finde, wandert eine in die rechte Hosentasche. Abends hole ich diese Kastanien hervor und lasse Revue passieren, was tagsüber so schön gewesen ist. Ich bin sicher, das werden nicht die großen, sondern die kleinen Dinge gewesen sein: die Sonne auf meinem Gesicht, der Regenbogen, den ich gesehen habe, das Lächeln der Nachbarin oder die Freude meines Kindes, das auf mich zugelaufen ist. Es sind diese Momente, die uns im Leben reich beschenken. (3117/09.10.2025)