Ist das wichtig oder kann das weg? Was wir als Abfall schnell entsorgen würden, lässt das Herz des Musikarchäologen Graeme Lawson schlagen. Für ihn kann ein kleines Metallstück einen Blick in vergangene Zeiten bieten.
Was macht ein Musikarchäologe? Dass es einen solchen Beruf überhaupt gibt, ist 99,9 Prozent der Menschen völlig unbekannt. Womit sie sich beschäftigen, ist daher vielen ein absolutes Rätsel. Wer kann es lösen? Der in Cambridge lebende Archäologe und Künstler Graeme Lawson. Er zeigt in seinem neuen Buch “Soundtracks”, was es musikalisch über die Vergangenheit zu wissen gibt.
Lawson nimmt seine Leser mit auf eine Rückwärtsreise, beginnend in der Gegenwart zurück zu den ältesten bekannten Klängen vor mehreren Millionen Jahren. Wie bei archäologischen Ausgrabungen beginnt er an der Oberfläche und arbeitet sich Schicht für Schicht vor in die Tiefe der Vergangenheit.
Lawson interessiert sich gerade auch für die kleinen Dinge, die die meisten einfach weggeschmissen hätten, so wie ein rostiges Stück Metall, das in der Nähe der texanischen Alamo-Mission gefunden wurde. Graeme identifizierte es als Teil einer Mundharmonika. Dieses kleine, gut tragbare Instrument war ein ständiger Begleiter von Soldaten auf der ganzen Welt.
Weitere Funde stammen vom Schlachtfeld von Gettysburg, aus belgischen Schützengräben oder vom Ufer eines niedergebrannten Südstaaten-Herrenhauses. Mundharmonikas, vermutet Lawson, waren die Musikgeräte der Reisenden, der Kämpfenden und der Einsamen.
Zur Musikgeschichte gehören auch die Kinder mit Rindenflöten. Dabei handelt es sich um aus Baumrinde gefertigte Blasinstrumente, die nur im Frühling herzustellen sind. Ihre Lebensdauer beträgt nur wenige Stunden. Doch zeigt der Musikarchäologe, dass sie Klänge erzeugen, die in der Volksmusik vieler Kulturen wiederkehren.
Wer Geld hatte und Macht, konnte sein Bedürfnis nach Musik entsprechend spektakulär umsetzen. Der Musikarchäologe erzählt von dem Grab des chinesischen Markgrafen Yi, der sich vor 2.500 Jahren ein mächtiges Glockenspiel gegönnt hatte. Es wurde als Grabbeigabe zusammen mit verschiedenen anderen Musikinstrumenten mit ihm beigesetzt. Damit in der Ewigkeit Musik erklingen konnte, lagen dort auch über zehn weitere Personen begraben, wahrscheinlich seine Hof- und Hausmusiker, schätzt Lawson. Er geht davon aus, dass sie umgebracht wurden.
Wer Musik gerne etwas lauter hört, dreht das Wiedergabegerät einfach stärker auf. Früher hat man Tongefäße in die Wand eingelassen und sie mit der Öffnung zum Kirchenraum ausgerichtet. Der Musikarchäologe identifiziert dies als eine mittelalterliche Beschallungsanlage. In seinem Buch erzählt er, wie Bauinspektoren 1948 auf diese Resonanzgefäße stießen, als sie die Bauschäden an der ehemaligen Stiftskirche St. Walburga in Meschede (Sauerland) inspizierten. In Deutschland sollen in rund 250 Kirchen derartige Schallgefäße nachweisbar sein, so Lawson.
Im Spätmittelalter kamen sie immer weniger zum Einsatz und wurden dann bei Renovierungsarbeiten unter dem Putz versteckt, meint der Musikarchäologe. Dafür kam etwas anderes zum Einsatz, nämlich der Resonanzboden. Er sagt, dabei handele es sich um eine Holztafel, die wie ein kleines Dach über der Kanzel des Predigers aufgehängt wurde. Sie sollte die Stimme nach vorne und unten projizieren, damit die Predigt besser zu hören war.
Viele Instrumente wurden nicht sorgsam verwahrt, sondern vergessen, verloren oder absichtlich zerstört. Im englischen Suffolk wurde ein Flügelhorn gefunden – stark beschädigt, vergraben, mutmaßlich absichtlich zerstört. Für den Musikarchäologen Lawson stellt dieser Fund ein ungelöstes Rätsel dar.
In einem Dorf namens Jiahu im ländlichen Norden Zentralchinas fand man ungefähr 9.000 Jahre alte Gräber, wo die Toten mit den Dingen beigesetzt wurde, die ihnen etwas bedeuteten, wie zum Beispiel Flöten, erzählt der Musikarchäologe. Sie wurden aus den Bein- und Flügelknochen “des anmutigsten und musikalischsten aller Vögel hergestellt, des trompetenden, tanzenden Rotkronenkranichs”, so Lawson. Rasseln wurden aus Schildkrötenpanzern hergestellt, die mit Steinen gefüllt wurden. Der Autor interpretiert das als eine “unerwartete Komplexität und Ambitioniertheit des Musizierens” in der frühen Jungsteinzeit.
Musik ist vergänglich und hinterlässt doch Spuren. “Was auch immer von unserer Zeit überdauert, es wäre doch seltsam, wenn darunter nicht auch Überreste und Spuren unseres Musizierens zu finden wären” sagt Lawson. Was mag es wohl sein und welche Schlüsse werden die Musikarchäologen der Zukunft daraus schließen?