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Ein schmerzhaftes Geschichtslabor

Lange Zeit ist die Terrorgefahr von deutschen Behörden nicht erkannt worden: Der rechtsterroristische „Nationalsozialistische Untergrund (NSU)“ tötete zehn Menschen. Das letzte Opfer starb 2007. Am Sonntag ist in Chemnitz das bundesweit erste NSU-Dokumentationszentrum eröffnet worden. Es nimmt vor allem die Opfer und ihre Angehörigen in den Blick.

In den Vitrinen liegen unter anderem persönliche Gegenstände der Ermordeten. Die Familien haben sie dem Zentrum zur Verfügung gestellt. Darunter ist die Armbanduhr des NSU-Opfers Mehmet Kubasik, die zum Todeszeitpunkt stehenblieb. Er wurde 2006 in Dortmund vom NSU ermordet.

Für dessen Tochter Gamze Kubasik ist das Dokumentationszentrum längst überfällig. Chemnitz sei nicht irgendein Ort, sagte sie am Sonntag. Der NSU habe sich über Jahre hinweg in dieser Stadt versteckt, er sei dort gedeckt worden. Die Aufarbeitung dieser Tatsachen und dieser Zeit sei deshalb vor allem auch eine Frage der gesellschaftlichen Verantwortung.

Die Eröffnung des NSU-Dokumentationszentrums mitten in der Kulturhauptstadt Europas 2025 sei ein kraftvolles, aber auch widersprüchliches Zeichen, betonte Gamze Kubasik. Es solle ein Ort sein, an dem nicht nur erinnert wird, sondern auch einer, an dem Angehörige gehört und deren Geschichten erzählt werden: „Wir müssen selbst sprechen, selbst gestalten, selbst entscheiden können.“

Abdulla Özkan, Überlebender des Nagelbombenanschlags des NSU 2004 in Köln, sagte bei der Eröffnung: „Wir werden gehört, zumindest hier.“ Das Zentrum sei wichtig für alle betroffenen Familien. „Wir kämpfen noch immer für Anerkennung, oft bleiben wir allein“, so Özkan. Dieser Ort in Chemnitz sei nicht nur ein Mahnmal, sondern auch ein „Auftrag für die Zukunft“. Die Angehörigen verbinden Özkan zufolge mit dem neuen Zentrum die Hoffnung, dass es „ein Ort des Lernens, der Heilung und der Gerechtigkeit“ wird.

Bis zur sogenannten Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wurden die Angehörigen der Opfer durch Strafverfolgungsbehörden, die Politik, aber auch von Teilen der Medien nicht ernst genommen und allein gelassen. Sie wurden sogar verdächtigt, selbst in die Mordtaten und Anschläge verwickelt zu sein.

Die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Betroffenen des NSU, Barbara John, forderte am Sonntag für die Angehörigen der Opfer ein Schadens- und Leidensgeld. „Das muss nachgeholt werden“, sagte John. Erinnerungspolitik sei nicht genug. Es müsse gefragt werden, was die Überlebenden und Angehörigen brauchen. „Die Betroffenen leben in einer anderen Wirklichkeit. Sie haben eine Zeit durchlebt, von der wir alle gar keine Vorstellung haben“, sagte John.

Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, machte eine „kapitale Bildungsaufgabe“ für die Zukunft aus: Die nachwachsende Generation könne mit den drei Buchstaben NSU nichts anfangen, sagte er. Sachsens Ministerin für Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Petra Köpping (SPD), unterstrich, dass das Dokumentationszentrum in Chemnitz eine Zukunft haben müsse. Mittel dafür seien im Landeshaushalt eingestellt.

Die Chemnitzer Sozial- und Kulturbürgermeisterin, Dagmar Ruscheinsky (parteilos), sprach sich dafür aus, dass ein Besuch des Zentrums für die Bildungseinrichtungen der Region „fest im Programm und im Lehrplan eingebaut werden“. Die Auseinandersetzung mit Geschichte sei wichtig, gerade dann, wenn es schmerzhaft sei. „Wir eröffnen heute ein Labor“, sagte sie. Es sei der Anfang für ein bundesweites Verbundsystem.

Zwischen 2000 und 2007 ermordeten die Neonazis des „Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)“ neun Menschen mit Migrationshintergrund aus rassistischen Gründen sowie eine Polizistin. Bei Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen wurden viele weitere Menschen schwer verletzt und traumatisiert. 2011 flog der NSU auf. Bis heute ist der NSU-Komplex nicht vollständig aufgeklärt.

Das Dokumentationszentrum ist ein gemeinsames Projekt zweier Vereine und der Initiative Offene Gesellschaft. Bund und Land investierten jeweils zwei Millionen Euro. Ein weiteres Zentrum soll in Nürnberg folgen. Dort hatte es drei NSU-Opfer gegeben.