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Ein Jahr Studentenproteste in Serbien – Wie geht es jetzt weiter?

Auf politischer Ebene hat sich nichts grundlegend geändert in Serbien, seit nach einem Bahnhofsunglück vor einem Jahr die Studentenproteste begonnen haben. Doch Präsident Vucic gerät immer mehr unter Druck.

“Wie alle jungen Menschen, die derzeit an den Protesten teilnehmen, will ich, dass Serbien eines Tages ein gut organisiertes europäisches Land wird”, sagt Davud Delimedjac. Der Politikstudent war von Beginn an bei den Protesten gegen die Regierung von Präsident Aleksandar Vucic dabei. Er wünscht sich mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende der Erosion bürgerlicher Werte. Doch von einem Kurswechsel ist das EU-Beitrittskandidatenland seiner Meinung nach noch weit entfernt.

Vor zwei Wochen wurde Delimedjac gemeinsam mit Freunden in der Stadt Novi Pazar festgenommen – “zu ihrem eigenen Schutz”, wie die Polizei später angab. Denn die Gruppe hatte sich einer “Anti-Blockade-Demo” genähert: einer Versammlung von Vucic-Unterstützern, die ein Ende der monatelangen Studentenproteste forderte. Eine fadenscheinige Ausrede, meint der Student: “In den letzten Monaten wurden mehr als 2.000 Personen, die mit den Studentenprotesten in Verbindung standen, festgenommen und verhört.” Zugleich häuften sich Berichte über unzulässige Polizeigewalt.

Am 1. November jährt sich das Bahnhofsunglück von Novi Sad zum ersten Mal. 16 Menschen kamen damals beim Einsturz eines Vordachs in der zweitgrößten Stadt des Landes ums Leben. Seither ist Serbien im Ausnahmezustand – beinahe wöchentlich kommt es zu Massenprotesten. Die Studenten und ihre Unterstützer führen den Dacheinsturz auf Korruption und Fahrlässigkeit zurück. Sie fordern vorgezogene Parlamentswahlen und wollen dabei mit ihrer eigenen Wahlliste antreten.

Unter regulären Voraussetzungen könnte eine solche Studentenliste zur “symbolischen und mobilisierenden Kraft” werden, wenn sie mit anderen zivilgesellschaftlichen und reformorientierten Akteuren zusammenarbeite, meint Igor Bandovic. Er ist Jurist und Direktor des Thinktanks Belgrader Zentrum für Sicherheitspolitik.

Und tatsächlich: Eine Umfrage von September sieht die Studentenliste mit 44 Prozent klar in der Favoritenrolle; die Zustimmung für die Serbische Fortschrittspartei von Staatschef Vucic lag demnach bei 32 Prozent. Doch die Wahl sei für die Studenten eine extreme Herausforderung, gibt Bandovic zu bedenken. Denn: “Die Regierungspartei kontrolliert noch immer die Medien, die Sicherheitsdienste und den Wahlprozess selbst.”

Für die Studentenbewegung wäre die – bisher unveröffentlichte – Wahlliste in jedem Fall eine Zäsur. Sie kam bisher ohne herausragende Anführer oder Hierarchie aus. “Es ist sinnvoll, das Bild einer führerlosen Bewegung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten – bis der Wahlkampf tatsächlich beginnt”, empfiehlt Bojan Vranic, Politologe der Uni Belgrad. Dann laute die entscheidende Frage: Wird die Bekanntgabe der Liste neue Begeisterung hervorrufen – oder werden Personalstreitigkeiten eher das Gegenteil in der ohnehin schon politikverdrossenen Gesellschaft bewirken?

Zu einem Trend haben die Proteste nach Ansicht des Experten jetzt schon maßgeblich beigetragen: Der Einfluss der etablierten Parteien schwinde. Selbst jener der Opposition. Auf die Bildfläche treten immer mehr neue politische Akteure, darunter etwa Bürgerinitiativen. “Das ist neu für die serbische Parteienlandschaft”, erläutert Vranic.

Einen Achtungserfolg können die Studenten auf internationaler Ebene verbuchen: Die Europäische Union, die aus Angst vor einer instabilen Balkanregion jahrelang mindestens ein Auge vor den Missständen in Serbien zugedrückt hat, wacht nun anscheinend auf. Zu diesem Fazit gelangen etliche Beobachter nach dem Besuch von Ursula von der Leyen Mitte Oktober in Belgrad. Statt des gewohnten “Lieber Alexander” begann die EU-Kommissionspräsidentin ihre Rede mit einem eher kühlen “Herr Präsident”. Anschließend forderte sie Vucic auf, den EU-Beitritt konkret anzugehen. Es müssten “Fortschritte bei der Rechtsstaatlichkeit, den Rahmenbedingungen für Wahlen und der Medienfreiheit” erzielt werden.

Vor einer Woche verabschiedete das EU-Parlament überdies seine bisher schärfste Resolution zu Serbien. In dieser kritisierten die Abgeordneten unter anderem “staatlich beeinflusste Gewalt und Einschüchterung” von Demonstranten, Journalisten, NGOs und Oppositionellen.

“Dieser veränderte Ton spiegelt eine längst überfällige Anerkennung der Realität wider”, heißt es dazu von der studentischen Initiative Palac Gore (“Daumen hoch”). Die in Brüssel tätige serbische Gruppe fordert die EU zum Handeln auf – etwa durch Sanktionen gegen korrupte Netzwerke, eine Beobachtermission in Belgrad und Schutzmechanismen für serbische Journalisten und Whistleblower. “Die Zeit vager Diplomatie ist vorbei. Die EU muss aufhören, Versprechungen zu belohnen und anfangen, Ergebnisse zu fordern”, so die Aktivisten.