Artikel teilen:

„Echt-ZEIT“ lehrt die Kunst der Langsamkeit

Im Bonner Kunstmuseum zeigen internationale Künstler ihre Gegenentwürfe zu einem immer schnelleren Leben

Hier sind die Gesetze der Zeit aufgehoben: Zur Ausstellung „EchtZEIT. Die Kunst der Langsamkeit“ im Kunstmuseum Bonn sollte der Besucher viel Zeit mitbringen – zumindest dann, wenn er sich einige Werke genauer anschauen will. Entschleunigung ist angesagt. Denn mit dem kostbaren Gut Zeit wird hier nicht gegeizt.
Eigentlich hatte Kurator und Museumschef Stephan Berg bei der Vorbereitung der Schau damit gerechnet, dass viele Künstler das zunehmende Tempo des modernen Lebens thematisieren würden. „Wir waren überrascht, dass das auf breiter Front nicht der Fall war“, sagt Berg. Stattdessen stieß er auf Arbeiten, die dazu einladen, genau hinzusehen – und die Zeit einmal zu vergessen.
Zu sehen und hören sind bis zum 4. September Gemälde, Video- und Klanginstallationen sowie Skulpturen von 31 internationalen Künstlern. Sie setzen sich mit dem Phänomen Zeit auseinander, indem sie vielfach mit Verlangsamung, Wiederholung, Dehnung oder Stillstand arbeiten.
Da ist zum Beispiel Francis Alys‘ Videoarbeit „Zócalo, Mexico City 22 May, 1999“: eine zwölfstündige Aufnahme des zentralen Platzes in der mexikanischen Hauptstadt. Wie bei einer Sonnenuhr dreht sich im Laufe der Aufnahme der Schatten des Fahnenmastes in der Mitte des Platzes. Wer lange genug hinschaut, kann auch feststellen, wie sich die Menschen mit dem schmalen Schatten bewegen. Immer wieder suchen Passanten dort Schutz vor der brennenden Sonne auf dem baumlosen Areal. Über längere Zeit betrachtet wird das Treiben auf dem Platz fast zu einer Choreographie.
Eine Art Tanz führen auch die Arbeiter in Mark Formaneks Video „Standard Time Rotterdam“ auf. Über einen Zeitraum von 24 Stunden bauen sie jede Minute eine vier mal zwölf Meter große Zeitanzeige um, so dass die aus weißen Latten bestehenden Ziffern immer die richtige Uhrzeit anzeigen. Wie bei einem Boxenstopp muss jeder Griff sitzen, damit alles schnell genug geht.
Ein Langzeitprojekt verfolgt auch Peter Dreher. Seit 1974 malt er ein und dasselbe Wasserglas immer wieder in Originalgröße. Insgesamt rund 5000 Wasserglas-Bilder sind bisher entstanden, Ende offen. Im Kunstmuseum sind die Arbeiten von 2001 bis 2010 zu sehen. Das Überraschende an dem Projekt „Tag um Tag ein guter Tag“: Kein Bild gleicht dem anderen. Immer ist das Licht etwas anders, einmal hell und gelblich, dann wieder ins Bläuliche changierend oder dunkelgrau. Jeder Tag ist eben anders und einmalig, kein Moment gleicht dem anderen, auch wenn das Objekt immer dasselbe bleibt.
Die Spannung zwischen einer seriellen Entwicklungslosigkeit und der Einzigartigkeit des Moments macht sich auch Thomas Kitzingers Portraitserie zu eigen. Seit 2008 malt der Künstler Portraits auf der Basis selbst gemachter Fotos. Die Köpfe der Modelle werden immer im gleichen hellblauen T-Shirt vor dem gleichen blassblauen Hintergrund gezeigt. Titel eines jeden Bildes ist das jeweilige Geburtsdatum des Portraitierten. Kitzinger interessieren die Spuren der Zeit in den Gesichtern. Deshalb ist jede kleine Falte zu sehen. „Jeder Kopf ist ein Universum“, sagt der Künstler. Ein vergängliches allerdings: Zwei der bisher rund 60 Portraitierten sind bereits verstorben.
Einen versöhnlichen Blick auf das Thema Zeit wirft Marijke van Warmerdam mit ihrer doppelten Videoinstallation „Couple“ und „In the Distance“. Ein elegant gekleidetes Senioren-Paar sitzt auf einer Parkbank an einem Gewässer. Sie wirken vertraut miteinander, führen ein offenbar intimes Gespräch. Währenddessen werden sie von der Kamera gleichsam abgetastet. Sie gleitet über die faltigen Gesichter, entfernt sich, schwebt über den Personen und nähert sich von hinten wieder durch ihre Beine hindurch. Im zweiten Video ist das Paar durch ein Fenster aus der Ferne zu sehen.
Nicht zuletzt wirft die Ausstellung auch einen humorvollen Blick auf die Beschleunigung unserer Zeit. Dieses Thema griff Charlie Chaplin schon 1936 in seinem Film „Modern Times“ auf. Er spielt einen Fließbandarbeiter, der mit seiner monotonen Tätigkeit kaum hinterherkommt und immer wieder für Chaos sorgt.

Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags, 11-18 Uhr, und mittwochs,  11-21 Uhr. Ein kostenloses Begleitheft erklärt jedes Exponat. Internet: www.kunstmuseum-bonn.de.