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“Dünnsein wird als Lebensziel und Leistung vermittelt”

Der Verein „Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung“ arbeitet seit 20 Jahren daran, Vorurteile zum Thema Körpergewicht abzubauen. Wichtigstes Ziel sei es, dass Körpergewicht als Diskriminierungskategorie im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgenommen werde, sagte die Berliner Vorsitzende des Vereins, Natalie Rosenke, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ein Gespräch über frühe Diskriminierung, Untersuchungen in der Pferdeklinik und Erwartungen an Menschen mit hohem Gewicht.

epd: Frau Rosenke, worum geht es der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung?

Natalie Rosenke: Wir verorten uns als Menschenrechtsorganisation. Gesundheit, sagen wir, ist nicht als Leistung zu erbringen. Das Recht auf Diskriminierungsfreiheit ist ein Grundrecht, es ist nicht an gesellschaftlich erwünschtes Verhalten geknüpft. Wir haben hier so ein schönes Plakat, auf dem steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Da steht nix von nur bis Größe M. Für uns ist ein Grundverständnis von Gewichtsvielfalt wichtig. Das heißt: Eine hoch gewichtige Person ist keine Person, die es nur noch nicht geschafft hat, dünn zu werden, sondern hohes Gewicht ist Teil der menschlichen Vielfalt. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Dicke Menschen haben ständig das Gefühl, sie müssen ihre eigene Existenz rechtfertigen.

epd: Wo erleben Sie Diskriminierung?

Rosenke: Das beginnt schon in der Kita, denn dicke Kinder werden problematisiert. So wird ihnen schon früh vermittelt, dass sie nicht das geliebte Kind, sondern vor allem das Problem ihrer Eltern sind. Sie werden beim Spielen gemieden und es gibt Gleichsetzungen, die schon im Kita-Alter beginnen: Dick gleich ungesund, nicht sportlich, weniger gebildet. Dann heißt es: Du musst ja nur wollen, wir haben ja alle Mittel, damit du schlank wirst.

Dünnsein wird als Lebensziel und Leistung vermittelt. Eine Leistung, von der erwartet wird, dass sie erbracht wird. Das macht etwas mit den Kindern, wenn das Gewicht so stark in den Fokus kommt, so stark bewertet wird. Studien zeigen, dass es bei Heranwachsenden, die Gewichtsdiskriminierung erleben, eine höhere Rate an depressiven Verstimmungen, Suizidgedanken und Suiziden gibt als bei Kindern, die diese Erfahrung nicht machen.

In der Schule kommt verstärkt Mobbing hinzu und Studien zeigen, dass dicke Kinder schlechter benotet werden. Hochgewichtige Körper werden verbunden mit Eigenschaften wie leistungsschwach, faul, achtet nicht auf sich, willensschwach. All das führt zu deutlich schlechteren Startbedingungen für den späteren Einstieg ins Berufsleben.

epd: In welchem Bereich haben hoch gewichtige Menschen das größte Risiko, diskriminiert zu werden?

Rosenke: Das ist der Bereich, in dem wir alle auf eine gute Versorgung angewiesen sind: im Gesundheitswesen. Schon wenn eine hoch gewichtige Person eine Arztpraxis betritt, ist sie in den seltensten Fällen ein unbeschriebenes Blatt. Da werden bestimmte Werte sofort geprüft: der Blutdruck, das Cholesterin, der Zuckerwert. Hoch gewichtige Menschen haben oft das Gefühl, dass es bei der Diagnostik nicht darum geht, ergebnisoffen zu schauen, wo könnten die Beschwerden herkommen, sondern dass sich der Blick auf bestimmte Annahmen verengt. Da gibt es dann natürlich auch Fehldiagnosen. Manchmal gibt es sogar Behandlungsverweigerungen, etwa beim Orthopäden, der bei Knieproblemen sagt: ‘Das ist ja nicht verwunderlich, kommen Sie mal mit 20 Kilo weniger wieder, dann schaue ich mir das auch an’. Ich sag’ mal: Eine Diät hat noch keinen Bänder- oder Meniskusriss geheilt.

Dazu kommt, dass im Bereich der medizinischen Hilfsmittel und Geräte oftmals die passende Ausstattung fehlt. So sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass eine Blutdruckmanschette verfügbar ist, die auch für einen dicken Arm geeignet ist, denn eine zu kleine Manschette treibt die Werte nach oben und ist schmerzhaft. In der Fläche haben wir außerdem das Problem, dass es zu wenige offene CT- und MRT-Geräte gibt. Entweder sind die Anfahrtswege zu weit und der Patient verzichtet auf dieses Diagnoseverfahren. Oder es gibt die ethisch zwar fragwürdige, aber immerhin existente Möglichkeit der Untersuchung in einer Pferdeklinik. Dann sagt aber die Kasse: Sorry, das ist Veterinärmedizin, das geht nicht. Da kratzt vieles an der Menschenwürde und an der Qualität der Versorgung.

Das beginnt schon bei Nachthemden im Krankenhaus, die nicht groß genug sind, um den Körper vollständig zu bedecken. Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit hohem Gewicht in der Schwangerschaft, wenn etwa im Beratungsgespräch vom zukünftigen Kind nur als Risiko gesprochen wird. Das kann nicht neutral ankommen. Es ist eben ein Unterschied, ob ich vom Risiko spreche oder so: ‘Als hoch gewichtige Person haben Sie in der Begleitung, die wir jetzt machen, einen anderen Bedarf – und Sie sind bei uns in guten Händen’. Das wäre eine ganz andere Art der Willkommenskultur für alle Körperformen.

epd: Was ist das wichtigste Ziel der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung?

Rosenke: Ganz klar, dass Körpergewicht als Diskriminierungskategorie politisch und gesetzlich anerkannt wird. Konkret: dass es in Paragraf 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes aufgenommen wird, dem Antidiskriminierungsgesetz auf Bundesebene. Dort stehen sechs Diskriminierungskategorien, auf die sich Menschen berufen können, wenn sie Schutz suchen. Für die Diskriminierung anhand von Körpergewicht gibt es den nicht.

Wir brauchen ein Umdenken in der Gesellschaft, einen anderen Blick auf den hoch gewichtigen Körper. Dafür ist die gesetzliche Anerkennung als Weichenstellung eine zentrale Voraussetzung. Dann erst werden Fördermittel frei, damit Organisationen zu dem Thema arbeiten können. Dann könnte eine Struktur geschaffen werden, die Gewichtsdiskriminierung entgegenwirkt. Das können zum Beispiel Antidiskriminierungs-Beratungsstellen sein, die das Thema aufnehmen.

Das kann auch bedeuten, einen nationalen Aktionsplan gegen Körperhass und Gewichtsdiskriminierung aufzustellen. Wir haben mit Blick auf den Körper ja auch ein Grundproblem, weil Körpernormierung und -optimierung immer mehr mit einer Erwartungshaltung verknüpft sind. Das beginnt mit dem kleinen Satz: Mach doch mal was aus dir. Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung steht viel zu oft infrage.