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Drama über Restaurantküche führt in den Hochleistungs-Mikrokosmos

In einem Londoner Luxusrestaurant ist kurz vor Weihnachten die Hölle los; der Chefkoch und sein Team schlittern dem Abgrund entgegen. Das BR Fernsehen zeigt das Drama aus dem stressigen Mikrokosmos einer Restaurantküche.

Das Kino liebt das Kulinarische. Und das nicht nur wegen der Romantik, die gemeinsam zelebriertes Essen haben kann, oder wegen seines komischen Potenzials, das schon der Stummfilm mit Tortenschlachten und Co. unsterblich machte. Das Medium Film hat Speisen in seiner Geschichte in unzähligen Variationen aufgetischt – symbolisch, liebevoll, hasserfüllt, hinterhältig, kurz: mit jeder denkbaren menschlichen Intention und Emotion.

Seit einigen Jahren entdecken Filme und Serien auch zunehmend die Gastronomie für sich – und mit ihr den brutalen Mikrokosmos, der hinter dem Auftischen von Speisen steht: eine Arbeitswelt, die ihre Kreationen aus der klaustrophobischen Wuselei der modernen Küche hervorbringt, oft in zermürbender Hitze, unter gnadenlosem Zeitdruck, begleitet von einer feindseligen Atmosphäre.

“Boiling Point” – Siedepunkt – hebt sich inhaltlich kaum von anderen Vertretern dieses Gastronomie-Genres ab. Formell aber geht der von Philip Barantini geschriebene und inszenierte Spielfilm, den das Bayerische Fernsehen am 15. Juli ab 23.30 Uhr zeigt, eigene Wege. “Boiling Point” ist in einer einzigen Einstellung gedreht. Der Arbeitsplatz lässt Köche und Service-Personal aneinander und an ihre Gäste geraten. Und entpuppt sich als perfektes Umfeld für eine auf Spielfilmlänge gestreckte Plansequenz. Die lange Einstellung hält die zeitliche Kontinuität – und damit die Spannung, die bereits dort ist, als der furchtbar erschöpfte Küchenchef das geschlossene Restaurant betritt und die Vorbereitungen beginnt.

Kein gewöhnlicher Abend. Ein Gesundheitsinspektor begrüßt Andy mit der Mitteilung, dass sein Restaurant aufgrund soeben besichtigter Mängel in der Bewertung herabgestuft werde. Hängen bleibt erst einmal nur vor allem, dass Camille (Izuka Hoyle), die jüngste Köchin im Team, ihre Hände in der Lebensmittel-Spüle gewaschen hat. Kollege Tony (Malachi Kirby) hat demnach Austern und Gemüse auf dem gleichen Schneidebrett zubereitet – Kreuzkontamination, ein Anfängerfehler und absolutes No-Go in jeder Küche.

Andy foltert das Küchenpersonal mit einer langen Liste rhetorischer Fragen, verlangt jedem Kritikpunkt eine Antwort ab und widmet sich dann Souschef Carly (Vinette Robinson), die ihm das Tagesmenü vorstellt und zugleich darauf hinweist, dass ein großer Teil der notwendigen Bestellungen nicht gemacht wurde und die entsprechenden Zutaten knapp sind.

Es ist der erste Hinweis darauf, dass eben nicht Andy derjenige ist, der den Laden hier zusammenhält, sondern vielmehr der Laden Andy durch die Krise schleppen muss. Der Küchenchef ist jenseits von ausgebrannt. Das Privatleben liegt, wie die kürzer werdenden Telefongespräche mit der Freundin beweisen, endgültig in Trümmern; das Restaurant ist so schlecht aufgestellt wie seit Jahren nicht und steht vor dem finanziellen Aus.

Der Weg führt in Richtung Abgrund – und Barantini treibt seinen Film unerbittlich weiter auf ihn zu. “Boiling Point” funktioniert als Thriller, der die Schrauben anzieht, wie auch als Drama, das einen Blick auf Menschen wirft, die unter dem Druck zusammenbrechen. Wieder und wieder unternimmt die Kamera kleine Exkursionen in die Hinterzimmer und -Höfe, beleuchtet die menschlichen Dramen, die sich an den Nebenschauplätzen zutragen.

So sieht Patissière Emily (Hannah Walters) zum ersten Mal, dass ihr Sohn, der an der gleichen Station arbeitet, sich an den Unterarmen ritzt; Spülerin Sophia (Gala Botero) ist schwanger und muss sich mit doppelter Arbeit abschuften, weil der zweite Spüler Jake (Daniel Larkai) konstant zu spät kommt. Maître d’Hôtel Beth (Alice Feetham) unterbricht die Arbeit für einen Weinkrampf auf der Toilette, Andy hält sich am gleichen Ort mit einer Nase Koks auf den Beinen.

Die eigentliche Leistung des Films ist es, den Niedergang des Küchenchefs – dem Hauptdarsteller Stephen Graham bei aller manischen, selbstzerstörerischen Energie immer noch Liebe zum Kochen und Sympathie für sein Team unterzuschmuggeln vermag – zu modulieren. Der zerstörerische Sog, der Küchenchef und Personal gleichermaßen in den Abgrund zieht, ist bis zum Ende zwingend.