Außergewöhnlicher Filmstil, offene Erzählung – Das Kino-Drama “Der Fleck” ist nicht mehr und nicht weniger als eine Geschichte aus dem Leben. Die offensichtliche Ereignislosigkeit ist dennoch sehenswert.
“Und dann? Ja, was ist dann passiert?” Die Geschichte, die einer der Jugendlichen erzählt, dreht seltsame Kreise und versickert im Nirgendwo; eine Pointe gibt es nicht. In den Gesichtern der Zuhörenden liegt Verwunderung, vielleicht auch Ratlosigkeit. Auch der Erzähler ist plötzlich verunsichert und fragt sich, ob er vielleicht Unsinn geredet hat. Doch dann erlöst ein Mädchen die fragenden Blicke mit der einfachen Feststellung, es sei eben eine “Geschichte aus dem Leben”.
Auch das Drama “Der Fleck” behandelt so eine Geschichte aus dem Leben. Ein paar junge Leute verbringen einen heißen Sommernachmittag gemeinsam an einem Flussufer. Auch wenn sich dabei nichts weiter ereignet, so haben sie doch Zeit miteinander geteilt. Und zwar jene Art von Zeit, die, dem Alltag und seinen fest getakteten Rhythmen enthoben ist, die sich ausdehnt im Raum und dabei jegliche Konturen verliert – eine Zeit, die schlichtweg vergessen wird, bis der Anbruch eines neuen Morgens an ihre Existenz erinnert.
Von dieser Erfahrung, die mit einer gleichermaßen zerstreuten wie gesteigerten Wahrnehmung einhergeht, erzählt der Filmemacher Willy Hans, und zwar mit den Mitteln, die allein das filmische Medium bereithält. “Der Fleck” erzählt, so müsste man ergänzen, eine Geschichte, wie sie im Leben und gleichzeitig nur im Kino passiert.
Hauptfigur ist vielleicht mehr noch als der siebzehnjährige Simon (Leo-Konrad Kuhn), der sich zu Beginn in Trainingsklamotten und mit nichts als seinem Handy und einer Wasserflasche vom Sportunterricht davonstiehlt, das Flussufer und seine Umgebung. Darin taucht der Film so tief ein, dass sie zeitweilig fast wie ein Urwald anmutet.
“Der Fleck” beginnt allerdings inmitten von Beton und den geometrischen Fluchten eines Schulgebäudes. In den Blick rücken aber auch jene Bereiche, in denen urbaner Raum und Natur aufeinandertreffen, sich wie zwei Achsen schneiden oder zu Übergangszonen verschwimmen: an der Peripherie gelegene Bushaltestellen, Unterführungen und Brücken. Vom Fluss bis zur nächsten Autobahnraststätte ist es nur ein kleiner Spaziergang.
Mit Simon, dem etwas lethargischen, zerstreuten Jungen, dem das Haar wie ein Vorhang ins Gesicht fällt und der sein T-Shirt linksherum trägt, nähert sich der Film dem Ort und den Figuren. Ein Bekannter hat ihn auf den Straßen einer Wohnsiedlung aufgegabelt: Simon hat kurz gezögert, mitzukommen. Er kennt die Clique nicht, die schon am Wasser abhängt. Und wirklich Teil davon wird er auch nur für einen begrenzten Moment. Er beobachtet lieber vom Rand aus, als mitzumischen. Wobei es auch gar nicht viel mitzumischen gibt. Ein bisschen Karten- und Brettspiel, rauchen, in die Luft schauen, daherreden. Jede und jeder ist auch ein bisschen mit sich allein.
Eine Nähe zum Experimentalfilm und zum analogen Filmmaterial – “Der Fleck” ist auf 16mm gedreht – sowie einem Verständnis von Erzählung als offener Raum tritt im Film deutlich zu Tage. Es ist ein Kino, das sich mehr für das Zusammenspiel von Gesichtern, Blicken, Gesten und Umgebung interessiert als für die Ausformulierung zwischenmenschlicher Verhältnisse.
In “Der Fleck” sind die Bilder des Kameramanns Paul Spengemann einerseits an Simons Blicke und Wahrnehmung gebunden – es gibt explizite Point-of-View-Einstellungen, etwa bei Gängen durch das dichte Grün -, andererseits frei umherschweifend, zuweilen subjektlos. Die schwebende Atmosphäre, die durch den gelegentlichen Einsatz der vor sich hinwabernden Musik des Hamburger House-Produzenten Rajko Müller, bekannt unter dem Namen Isolée, noch verstärkt wird, sowie das Zusammenspiel von Licht und gedehnter Zeit ist dem Tagtraum näher als der (profanen) Wirklichkeit.
Als sich Simon und ein Mädchen von der Gruppe entfernen, nimmt der Film noch mal einen anderen Weg. Auf Momente der Annäherung folgen kleine Gemeinheiten, Interesse mischt sich mit Zurückweisung und latenter Aggression.
Irgendwann geraten aber auch diese Figuren mehr und mehr an die Ränder, und eine andere Instanz übernimmt. Körperlos bewegt sich die Kamera durch Gräser und Farne, tastet sich an Oberflächen entlang, streift über mit Moos und Algen überwucherte Steine, stürzt sich in die plötzlich schlammigen Fluten oder gerät ins Taumeln. Kurzzeitig wechselt der Film an eine andere Stelle am Fluss, wo gerade ein Kindergeburtstag stattfindet. Oder ist die Geschichte vielleicht auf eine andere Zeitachse gerutscht?
Am Ende gibt es doch so etwas wie den Versuch, die verstreuten Bewegungen wieder einzufangen. Würde man jedoch versuchen zu erzählen, was an diesem heißen Sommertag am Flussufer passiert oder eben nicht passiert ist, die Frage nach dem “und dann?” bliebe gewiss ohne Antwort.