Zwischen Verzweiflung und innerer Stärke: In “All We Imagine as Light” ringen drei Frauen mit ihrem Platz in einer gnadenlosen Gesellschaft. Es treibt sie an die Schnittstelle zwischen Illusion und Wirklichkeit.
Es ist Nacht in Mumbai, doch die Stadt pulsiert im Neonlicht. Menschen sind in Bewegung, verkaufen Obst und Gemüse auf den Straßen, pressen sich in überfüllte Züge. Die Kamera verweilt mit ihnen, begleitet sie sanft, ohne stehen zu bleiben. Aus dem Off erklingen Stimmen, die von ihrer Migration aus der Peripherie ins Zentrum erzählen, vom nicht enden wollenden Ankommen und den damit verbundenen Hoffnungen und Enttäuschungen. Die Worte schweben entkörpert, fast wie in einer Traumerzählung über den urbanen Schlaglichtern, begleitet von atmosphärischen Klavierklängen.
Mitten im Transit ist eine junge Frau im Sari auf dem Weg zur Arbeit. Prabha (Kani Kusruti) ist Krankenschwester in einer großen Klinik. Mit sanfter Bestimmtheit kontrolliert sie die Medikamente einer älteren Dame, die ihre Pillen versteckt, weil sie sich vom Geist ihres verstorbenen Ehemannes verfolgt fühlt. Modernes und Archaisches existieren im Mumbai von Payal Kapadias Spielfilmdebüt “All We Imagine as Light” ohne viel Aufhebens nebeneinander.
Am Empfang berät Schwester Anu (Divya Prabha) eine junge Frau aus der Provinz, die ein Angebot der indischen Regierung in Anspruch nehmen will: Tausend Rupien und einen Eimer – als Geschenk für eine im Krankenhaus durchgeführte Sterilisation. Da ihre Anfrage eher zweckrational als selbstbewusst wirkt, reicht Anu ihr stattdessen unauffällig eine Packung mit Verhütungsmitteln über den Schalter. Den beharrlichen Anrufen ihrer Mutter, die eine Ehe für sie arrangieren will, geht Anu aus dem Weg. Doch sie erhält auf ihrem Mobiltelefon unentwegt Nachrichten eines Liebhabers. Die Planung der gemeinsamen Verabredungen ist aufwändig, da diese heimlich stattfinden müssen.
Auch Schwester Parvaty (Chhaya Kadam) hat mit privaten Zumutungen zu kämpfen. Die rüstige Witwe soll nach 22 Jahren aus ihrer Wohnung verdrängt werden; der Bauherr schickt Schlägertrupps vor das Haus, um ihr zu drohen. Unterlagen über vertragliche Sicherheiten gibt es keine. Bislang haben mündliche Absprachen mit der Nachbarschaft genügt.
Verbunden sind die drei sehr unterschiedlichen Frauen durch die gemeinsame Arbeit und ihre unaufdringliche Solidarität füreinander. Die stille und sanftmütige Prabha hilft Anu, mit der sie in einer Wohngemeinschaft lebt, bei der Miete. Und Parvaty unterstützt sie dabei, sich einen Anwalt zu nehmen, um gegen ihre Vertreibung zu klagen. Wie ein guter Geist schwebt Prabha über allem; sie weist die Auszubildenden im Hospital ein, kocht Curry, kümmert sich um die trächtige Hauskatze. Doch hinter ihrer Selbstlosigkeit verbirgt sich tiefe Melancholie.
“Manche nennen Mumbai die Stadt der Träume, aber das ist sie nicht”, hört man im Voice-over während eines Straßenfestes für die Gottheit Ganesha, den “Herrn der Hindernisse”. Mumbai sei die Stadt der Illusionen. Man müsse an sie glauben, sonst werde man verrückt.
Es ist die feine Linie zwischen der Welt der Vorstellungen und jener der Trugbilder, welche die Regisseurin Kapadia in ihrem beeindruckenden Film auslotet. Die drei Freundinnen sind auf der Suche nach ihrem Platz im Leben, nach authentischen Beziehungen jenseits des gesellschaftlichen Korsetts und auch nach einer anderen, solidarischeren Welt. Zusammen durchleben sie eine Art Übergangsraum, in dem die eigenen Erinnerungen und Träume durch die filmische Montage Bilder einer möglichen Zukunft entwerfen. Dabei müssen sie sich durch falsche Vorstellungen hindurchbewegen und die Kraft des eigenen Begehrens ans Licht bringen.
Kapadia verknüpft dokumentarisches Material aus der indischen Großstadt mit intimen Nahaufnahmen der Protagonisten. Sie entkoppelt Stimme und Körper, wodurch die Grenzen zwischen Innen und Außen sowie der sozialen Realität und dem Psychischen fließend werden. Insbesondere durch die eigenwillige Ton-Montage, die in Spannung zu den Bildern tritt, entwirft Kapadia nicht bloß ein atmosphärisches Stadtporträt, sondern einen filmischen Wahrnehmungsraum, der sich aus dem Erleben der drei Frauen speist.
“Im Dunkeln versucht man sich das Licht vorzustellen, aber das geht nicht”, heißt es in einer Szene. Helligkeit kann blenden, sie kann als Medium wie im Kino aber auch Erkenntnisse produzieren. Die grelle Beleuchtung der verregneten Stadt, die sich in den Pfützen spiegelt, illustriert Verlockungen und Verheißungen, die trügerischen Aufstiegsversprechen einer von rigiden Klassenunterschieden geprägten Gesellschaft.
Ganz anders das warme Sonnenlicht im zweiten Teil des Films, als sich die Handlung wieder in die Peripherie der dörflichen Küste verlagert. Es löst in der Begegnung während eines lang erwarteten Liebesaktes die inneren und äußeren Grenzen auf, die das Zusammenkommen der Protagonisten bislang verunmöglicht haben. Es löst sogar Raum und Zeit auf, als das Meer Prabha in einer mystischen Szene ihren verschollenen Ehemann vor die Füße spült. In diesem Vexierspiel vielfacher Illusionen kann Prabha paradoxerweise zum ersten Mal klar sagen, was sie wirklich will – und was nicht mehr.