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Die Netz-Welt ins Klassenzimmer lassen

Plädoyer für die pädagogisch begleitete Nutzung des Internets als Lern- und Lehrmittel im Schulunterricht und für Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihren Schülerinnen und Schülern die Neugier teilen und Neuem gegenüber aufgeschlossen sind

SCHWERTE – Zum einen ziehen immer mehr digitale Geräte in die Schule ein, zum anderen wird die Diskrepanz zwischen der digitalen Schülerwelt und der analogen Schulwelt immer größer. Während Lehrkräfte sich größtenteils reserviert gegenüber den neuen Medien verhalten, nutzen ihre Schülerinnen und Schüler diese immer mehr. Ohne Internet lernen Schüler nicht mehr. Es ist ihr Nachschlagewerk, ihr Nachhilfeunterricht, ihr Arbeitsgerät. Lehrer, die im Netz nicht fit sind, verlieren an Akzeptanz.
Für Lehrende gilt es, Türen zu finden, wo zunächst keine für sie sind. Sie müssen sich neue Zugänge erschließen, um von ihren Schülern anerkannt zu werden. Schüler brauchen ein Angebot, dass sie Lehrer akzeptieren. Nur die Rolle als Lehrperson allein schafft noch keine Akzeptanz. Lehrer sollten als Lernende auftreten und sich darstellen. Denn Jugendliche sind die Experten für EDV-technische Fähigkeiten. Lehrer hingegen sind die Experten mit analytischer und ästhetischer Kompetenz. Die Schüler-Akzeptanz gelingt über das Digitale und über Beziehung.
Dafür sollten Lehrende zunächst ihre Klagehaltung aufgeben, die alle Veränderungen begleitet, kommentiert, bewertet oder zu verhindern sucht. Die Schülergeneration heute möchte den Fortschritt und die damit gegebenen Möglichkeiten nutzen. Sie sind dem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Sie wollen Lehrer, die mit ihnen neugierig sind.
Der generationsspezifische Sozialisierungskonflikt der Gegenwart ist der zwischen Ich-Identität und Geschmackskultur. Die Lernmotivation baut sich in einer am Geschmack ausgerichteten Gesellschaft geschmacksorientiert auf. Wichtig ist daher, dass Anreize gesetzt werden, die eine Bedeutung über diesen Geschmack hinaus vermitteln. Schüler brauchen deshalb Fragen und Aufgaben, die unbeantwortbar sind. Nur dann können Antworten nicht einfach nur abgerufen werden. Dann können sie auf allen Ebenen analysieren und eigene Antworten finden.
Lehrer brauchen dafür Mut zur Improvisation, denn zum Lernen und zum Lehren gehört die Improvisation. Schüler merken, wenn sie zu stark geleitet werden. Das empfinden sie unbewusst als Bevormundung. Um das zu vermeiden, sollte Unterricht sogenannte „Kreuzmodale Wahrnehmungen“ ermöglichen. Gemeint ist damit der Prozess, in dem die verschiedenen Sinneswahrnehmungen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dann mischen sich die Wahrnehmungsweisen im Gehirn. Es bilden sich komplexe Inhalte, die aus verschiedenen Wahrnehmungen gespeist sind. Sie ermöglichen ressourcenorientiertes, also bei den eigenen Erfahrungen und Fähigkeiten ansetzendes Lernen, weil zu den Inhalten alle Sinneswahrnehmungen befragt werden können und aus allen Sinnesorganen dem Inhalt etwas zugefügt werden kann.
Das aber kann ein auf das Internet verzichtender Unterricht nicht leisten. Das Netz ermöglicht wie kaum ein anderes Lernmittel Hören, Sehen und Fühlen sowie Improvisieren und kreatives Arbeiten. Und gerade die Möglichkeit zur Kreativität verändert die Lernkultur der Person im Besonderen.
Durch das Netz haben Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, Erfahrungen von der Welt zu machen, die ihnen sonst nicht zugänglich wären. Zudem können sie dort auch gänzlich ohne Leistungsorientierung stöbern. Lehrerinnen und Lehrer können dazu Anreize setzen, sie neugierig machen oder als Bildungsvorbilder dienen, denen Schüler gerne nacheifern.
Ein solcher, durch das Internet begleiteter Unterricht kann Schülerinnen und Schülern verhelfen, mit dem Rauschen der Meinungen zurechtzukommen. Fast alles wird heute diskutiert und es herrscht eine inflationäre Meinungsbildung. Aber nicht alles ist eine Frage von Position oder Meinung. Es gibt auch Richtig oder Falsch. Schüler brauchen ihre Lehrer als Experten. Sie brauchen sie, um gestört zu werden. Die Störung ist quasi als Unterrichtselement nicht mehr wegzudenken. Es ist völlig egal, wie sie stören, Hauptsache ist, sie stören die Geschmackskultur und verhelfen zur Identitätsbildung.
Solche Störungen gelingen, indem Lehrer Ziele verändern, auf Ziele verzichten und Lernwege der Schüler in Frage stellen. Eine gute Möglichkeit dazu bieten digitale Texte und Arbeitsblätter, die mit Links auf andere Seiten versehen sind. Schüler klicken dann weiter und werden bewusst kreuz und quer gelenkt.
Das Internet muss Einzug halten in den Unterrichtsalltag. Es ist das Lern- und Lehrmittel mit dem größten Potenzial. Schule braucht Lehrer und Schüler, die sich im Miteinander und im gegenseitigen Fragen die Welt erschließen und so voneinander lernen.

Der Autor, Dirk Purz, ist Öffentlichkeitsreferent des Pädagogischen Instituts der Evangelischen Kirche von Westfalen.