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Die Lichterkette

In der Adventszeit sind viele Häuser geschmückt. Lichterketten an Fenstern und Haustüren sorgen für heimelige Gefühle. Auch für einen Familienvater, der eigentlich nicht so viel für all den Lichterschmuck übrig hat. Ein Vater erzählt

onepony - Fotolia

In den ersten Tagen des Advent konnten wir jedes Jahr sehen, wie die Nach­barn an ihren Wohnungen und Häusern Lichterketten anbrachten. Wun­der­schön sahen sie abends aus. Manchmal allerdings kam mir dieser Lich­ter­schmuck allzu gekünstelt vor, wenn ich sah, wie sie auch noch Büsche und Bäume damit umgeben hatten; geschweige denn die anderen Nachbarn, die Gestalten wie Elche und Weihnachtsmänner als bunte Lichterformen an ihre Häuser hingen.
Zu viel ist zu viel.
„Wir könnten doch mal drauf verzichten und uns nur den echten Kerzen in der Wohnung hinwenden“, meinte ich. Doch da erntete ich Protest. Sie hätten sich alle schon so auf die Lichterketten gefreut …
Also gut. Dann aber bitte nicht wie die Nachbarn, bitte nur eine; die um die Eingangstür am Haus. Gesagt, beschlossen, getan.
Über die Tage und Abende merkte ich, wie ich mich selbst wieder mit­freute. Es ist ja ein ganz anderes Nachhause-Kommen nach getaner Arbeit, wenn man von hellem Licht über der Tür begrüßt wird.
Willkommen, so denkt und empfindet man. Willkommen bin ich hier, hier ist es licht. Hier wird der Eingang zum Empfang.
Dann geschah es, dass uns in jenen Tagen eine schwere Nachricht erreichte. Einer unserer liebsten Freunde war plötzlich gestorben. Wir waren ge­schockt. Wie konnte das geschehen sein?
Schrecken und Trauer zogen in die Fa­milie ein, denn alle hatten ihn geliebt, ihn, Harald. Es war, als wäre die gesamte schöne Adventsstimmung mit einem Mal verloschen.
An einem Abend kam ich von der Arbeit nach Hause und stellte fest, dass die Lichterkette über der Tür nicht aufleuchtete. Ist etwas mit der Sicherung pas­siert?, fragte ich mich und ging nach­sehen. Da hier alles in Ordnung war, ging ich nochmals zum Stecker an der Eingangstür.
Da kam unser Jüngster auf mich zu und sagte, er wolle keine Lichterkette mehr.
„Wieso denn?“
„Weil Harald tot ist.“
Ich stutzte.
„Warst du das?“, fragte ich ihn.
„Weil Harald gestorben ist, ziehst du den Stecker heraus?“
„Nein, das war Gott.“
Betroffen nahm ich ihn in den Arm und merkte, wie ich mit ihm weinen wollte.
„Ja“, sagte ich nach einer ganzen Zeit zu ihm.
„Ja, Gott hat sein Licht ausgelöscht, sein Licht hier auf der Erde.
Und die Tür ist dunkel.
Ja.
Vielleicht gibt es für Harald jetzt eine Tür im Himmel, die für ihn leuchtet.
Ja, vielleicht ist es so“, sagte ich zögerlich.
Aneinander gelehnt blieben wir lang zusammen und wärmten uns.
Als ich am darauffolgenden Abend von der Arbeit nach Hause kam, sah ich schon von Weitem die neu erleuchtete Lichterkette. Ja, bei näherem Hinsehen konnte ich erkennen, dass mit ihr etwas geschehen war: Tatsächlich. Es waren zwei Lichterketten, die die Tür umgaben.
„Zwei?“, fragte ich meinen Sohn, der mir entgegenkam.
„Ja, eine für uns und eine für Harald.“

Die Geschichte ist entnommen aus: Heidemarie Langer. Versteckte Geschenke. Kalendergeschichten von Advent bis Heilige Drei Könige. Luther-Verlag, 136 Seiten, 14,95 Euro.