In meiner Küche hängt ein Foto. Schwarzweiß ist es, in einem schlichten braunen Holzrahmen, nicht größer als eine Postkarte. Es ist alt, stammt aus den vierziger Jahren. Ernst und in ihrem Sonntagsstaat blicken meine Großmutter und meine Mutter in die Kamera des Fotografen. Das Bild sollte meinen Großvater im Krieg begleiten.
Doch erst die Geschichte hinter dem Bild macht es so besonders. Meine Mutter hat sie oft und gerne erzählt. Sie war im Grundschulalter und hatte einen Wackelzahn. Deswegen hatte sie die strikte Anordnung ihrer Mutter, nicht daran herumzuspielen. Nichts sollte ihr Lächeln auf dem Foto trüben.
Es kam, wie es kommen musste. Sobald der Fotograf die beiden in sein Atelier rief, hatte meine Mutter ihren Milchzahn in der Hand. Das darauffolgende Donnerwetter spiegelt sich wider in den Gesichtern von Mutter und Tochter.
Meine Großmutter und meine Mutter leben beide nicht mehr. Letztens wurde mir mit leichtem Schrecken bewusst, dass ich die Einzige bin, die diese Geschichte jetzt noch kennt und weitererzählen kann. Nun liegt es in meiner Verantwortung, dass die Überlieferung nicht abbricht.
Ob die Weggenossen von Jesus diese Verantwortung auch gespürt haben? Ich sehe sie vor mir, wie sie einem gebannten Publikum ihre Geschichten erzählen. Sie konnten nur hoffen, dass sie nicht verloren gehen. Und das sind sie bis heute nicht. Sie werden auch zukünftig weitererzählt werden.
Vielleicht ist jetzt in der dunkleren Jahreszeit Gelegenheit, sich mit einem Fotoalbum in der Hand zu erinnern. Auf dass auch künftige Generationen die Geschichten hinter dem Foto weiterzählen können.