Artikel teilen:

Die Film-Puristen

Das Thema war nichts weniger als die Zukunft des Kinos. Im Jahr 1995 jährte sich der 100. Geburtstag des Films und im Pariser „Odeon“-Theater hatte sich im März ein illustrer Kreis versammelt, um darüber zu diskutieren, wie es mit der Filmgeschichte weitergeht. Da wetterte der dänische Regisseur Lars von Trier gegen die Filmindustrie, warf ihr „Künstlichkeit“ vor. Er verlas ein Manifest, gedruckt auf 500 roten Zetteln, die er ins Publikum warf.

Es war die Geburtsstunde von „Dogma 95“, am 13. März 1995 unterzeichnet von Trier und Thomas Vinterberg, die Regisseure Søren Kragh-Jacobsen und Kristian Levring gehörten auch zum Kollektiv. In einer etwas wirren Sprache wandte sich das Manifest gegen den Individualismus im Kino – also auch gegen die Idee von Autorenfilmern – und gegen die Produktion von Illusionen auf der Leinwand.

Der rote Zettel endete mit dem „Keuschheitsgelübde“, das in zehn Punkten – analog zu den Zehn Geboten – eine Direktheit und Reduktion der filmischen Mittel forderte: Ein Film sollte an realen Orten gedreht werden, ohne künstliche Bauten und Kulissen, in Farbe und ausschließlich mit Handkamera. Musik war auch verpönt. Die Handlung sollte in der Gegenwart stattfinden.

„Dogma 95“ schlug ein wie eine Bombe, war ein riesiger Gesprächsgegenstand in der Filmszene. Die Filmemacher – Regisseurinnen waren ja keine dabei – richteten ein Büro ein, in dem Dogma-Filme zertifiziert wurden, und führten eine offizielle Zählweise ein. „Dogma #1“ war Vinterbergs „Das Fest“, 1998 in Cannes uraufgeführt.

Es ist vielleicht bis heute das Meisterwerk des Dogma-Films. Eine Geburtstagsparty läuft aus dem Ruder, als der Sohn des Jubilars den Missbrauch des Familienvaters an seinen Kindern öffentlich macht. Lars von Trier steuerte 1998 seinen „Idioten“ als „Dogma #2“ bei. Insgesamt wurden in knapp zehn Jahren 35 Filme aus der ganzen Welt als „Dogma 95“-Filme anerkannt.

„Dogma 95“ war ein Aufruf, die ausgetretenen Pfade von Kinoerzählungen zu verlassen, eine neue Ästhetik zu suchen und eine neue Unmittelbarkeit des Films zu finden. Der deutsche Regisseur Wim Wenders urteilte: „’Dogma 95′ war eines der wichtigsten Ereignisse in der europäischen Filmgeschichte am Ende des 20. Jahrhunderts.“

Die Initiatoren sagten sich allerdings schon nach wenigen Jahren von ihrem „Keuschheitsgelübde“ los – das ja auch wie das ganze Manifest einen Anflug von Parodie hatte. Auf das Gelübde „gebe ich einen Scheißdreck“, kanzelte es Mitinitiator Kragh-Jacobsen ab. „’An Dogma 95′ war von Beginn an erkennbar gewesen“, sagt der Filmhistoriker und -kritiker Bert Rebhandl, „dass es um einen Coup ging und nicht wirklich um eine innovative Bewegung“.

Sicher hatte „Dogma 95“ weniger Auswirkungen als das berühmte Oberhausener Manifest von 1962, das als Geburtsstunde des Neuen Deutschen Films gilt und auf Jahrzehnte gesehen das bundesdeutsche Filmbusiness umkrempelte. Und dennoch hat „Dogma 95“ Spuren hinterlassen, auf ganz vielfältige Weise.

Zum einen sind unter den strengen Regeln des Dogmas einige herausragende Filme entstanden, etwa die Komödie „Italienisch für Anfänger“ von Lone Scherfig aus dem Jahr 2000, die sechs Durchschnittsmenschen aus einem Kopenhagener Vorort in einem Italienischkurs zusammenführt und durch ihre dokumentarische Herangehensweise beeindruckt.

Die technische Entwicklung hin zu kleinen, digitalen Handkameras, die ohne Licht – auch Kunstlicht verbot das Dogma – auskamen, begünstigte eine neue Spontaneität beim Filmemachen. Und „Dogma 95“ beförderte noch etwas anderes: Filmemacher verstanden sich wieder als eine Gruppe. Die Werke des „German Mumblecore“ der 2000er Jahre jedenfalls, also kleiner, improvisiert entstandener Filme, scheinen wie inspiriert von „Dogma 95“ zu sein.

Nicht zuletzt sorgte „Dogma 95“ vielleicht auch dafür, dass Dänemark heute zu den wichtigsten Filmländern Europas gehört. Etwa die „Millennium“-Trilogie nach den Romanen von Stieg Larsson oder die Krimis nach Büchern von Jussi Adler-Olsen wie „Erbarmen“ finden ein großes Publikum. Das sind natürlich alles Genre-Produktionen, die „Dogma 95“ strikt verboten hat.

„Dogma“-Initiator Thomas Vinterberg selbst hat gerade eine faszinierende dystopische Miniserie gedreht, zu sehen in der ARD und ihrer Mediathek: „Families Like Ours“, in der die Dänen durch die Erhöhung des Meeresspiegels zum Auswandern gezwungen sind. Mit Musik. Und künstlichem Licht.