In diesen Wochen machen sich wieder Milliarden Zugvögel auf den Weg in wärmere Gefilde, darunter auch zehntausende Wildgänse. Andrea Schwarz, eine der meistgelesenen christlichen Autorinnen, hat ihnen ihr neues Buch gewidmet. Im Interview mit Angelika Prauss spricht sie über die Faszination, die Wildgänse ausüben und welche Botschaft sie für die Menschen haben.
– Frau Schwarz, was fasziniert Sie an Wildgänsen, dass Sie ein ganzes Buch über sie geschrieben haben?
Seitdem ich im Emsland wohne – das sind über vier Jahre –, komme ich an den Wildgänsen im Winter gar nicht vorbei. Wenn ich am Schreibtisch sitze, höre ich sie und sehe sie in Keilform fliegen. Das hat mich zunehmend fasziniert; wenn man in Großstädten wohnt, bekommt man das nicht so mit. Hier sind die Wildgänse über das ganze Winterhalbjahr zu sehen. Da bin ich neugierig geworden: Wo kommen sie her? Wie schaffen die das? Warum fliegen sie in Keilform? Warum schreien sie, wenn sie fliegen? Da habe ich mich kundig gemacht. Ich habe mich gefragt, welche Botschaft die Wildgänse für uns haben könnten, und ob es irgendetwas gibt, das wir von den Wildgänsen gerade auch im spirituellen Bereich lernen können – wie Sehnsucht, Unterwegssein und Freisein.
– Was ist denn die Botschaft der Wildgänse?
Sie laden ein, sich der eigenen Sehnsucht bewusst zu werden, sich mit dem Alltag und dem Hamsterrad nicht zufriedenzugeben, sondern der Sehnsucht in sich nachzuspüren und zu schauen, wie ich meiner Sehnsucht in meinem Alltag folgen kann. Wildgänse machen Lust auf Gemeinschaft. Wenn sie fliegen, sind sie immer in Gruppen unterwegs; das spart Kräfte, und man kann auch die Verantwortung teilen. Die Tiere konzentrieren sich auf die wesentlichen Dinge. Wildgänse suchen sich schon im Winter einen Partner, weil sie dafür keine Zeit haben, wenn sie im Frühjahr nach Norden fliegen. Wildgänse bleiben immer als Paar zusammen, damit sie an ihrem Ziel schnell mit dem Brüten und der Aufzucht von Küken beginnen können.
– Fühlen sich Menschen auch deshalb von Zugvögeln so angesprochen, weil sie so ungebunden und frei erscheinen?
Ja, ganz sicher. Denn gerade die Wildgänse und andere Vogelarten, die in Keilformation fliegen, ziehen den Blick auf sich – im Gegensatz zu einem Spatz, der tagtäglich vor einem rumhüpft. Wenn man Zugvögel am Himmel sieht und sie rufen hört, dann erwacht etwas in Menschen, was sie berührt. Und jede solche berührende Begegnung kann dazu beitragen, dass da etwas in uns hineinkommen und uns inspirieren kann.
– Wir leben in einer Gesellschaft, in der vieles möglich ist, von dem Menschen in anderen Kulturkreisen nur träumen können. Warum fühlen sich viele in ihrem Leben dennoch oft so unfrei?
Ich glaube, dass wir uns zum Teil selbst unfrei machen. Unsere ständige Verfügbarkeit über Handy, Mails, Smartphones – ich bin mir nicht sicher, ob das tatsächlich ein Beitrag zur Freiheit ist oder nicht eher zum Gefängnis und zur Verpflichtung wird. Man bekommt ja fast schon Ärger, wenn man zwei Tage auf eine E-Mail nicht antwortet. Dazu kommt, dass wir unseren Alltag sehr egalisieren. Gott hat den Israeliten den Sonntag gegeben, weil er genau wusste: Um frei zu sein, muss man gelegentlich auch frei haben. Das, was wir mit dem Sonntag inzwischen anfangen, hat nicht mehr viel mit Freiheit oder Ändern des Blickwinkels zu tun. Er ist oft eine Fortsetzung der Verpflichtungen des Alltags – nur mit einem anderen Vorzeichen. Deswegen glaube ich, dass Menschen heute gar nicht so frei sind. Damit bleibt die Sehnsucht nach Freiheit wach.
– Zugvögel finden ihren Weg – wie können Menschen ihre Bestimmung finden?
Mehrere Dinge können dabei helfen. Es ist hilfreich, ab und zu mal das eigene Hamsterrad zu verlassen, einen Schritt zurück zu machen und sich den Alltag und das eigene Leben mal von außen anzuschauen. Helfen können dabei Exerzitien im Alltag, ein Klosteraufenthalt, Gespräche mit geistlichen Begleitern oder der sonntägliche Gottesdienst, der ja auch dazu beitragen kann, mal den Blickwinkel zu ändern und eine andere Perspektive einzunehmen. Das zweite ist zu schauen, was mir tatsächlich beim Leben hilft und mich lebendiger macht. Zugvögel fliegen dahin, wo für sie das beste Leben möglich ist. Deshalb ziehen sie im Frühjahr hoch in den Norden, weil dort gute Brutbedingungen sind. Im Herbst kehren sie wieder zurück in wärmere Gefilde, weil dort das Nahrungsangebot besser ist, so dass sie im Winter besser überleben können. Sie sind flexibel und nicht auf einen Ort festgelegt. Wenn ich selbst überlege: Was macht mich lebendiger? Was hilft mir beim Leben?, dann könnte das Orientierung geben.
– Verstehen Sie Ihr Buch auch als Plädoyer, die Schöpfung mehr wertzuschätzen und von der Natur zu lernen?
Auf jeden Fall! Wir sind nicht mehr in Partnerschaft und Freundschaft mit der Natur, sondern wir beuten und nutzen sie aus. In Norddeutschland sind auch die Wildgänse nicht immer gern gesehen, immer wieder gibt es Diskussionen. Die Leute, die für den Deichbau zuständig sind, sagen, die Wildgänse machen die Deiche kaputt; die Landwirte beklagen sich, dass die Wildgänse ihre Felder mit der Wintersaat leerfressen. Man staunt nicht mehr über das, was solche Vögel können, sondern nimmt sie nur als Störenfriede wahr, die den eigenen Plänen entgegenstehen. Ich möchte deshalb auch ein wenig zum Staunen einladen, über das was Natur und Schöpfung so alles können und auch Ehrfurcht wecken.
Andrea Schwarz und Willi Rolfes: „Frei! Sehnsuchtsvoll leben. Die Botschaft der Wildgänse“, adeo, 224 Seiten, 19,99 Euro.