Raureif auf den Gräsern. Die Sonne wärmt kaum noch – wenn sie überhaupt noch zwischen den grauen Wolken erscheint. So manch einer wünscht sich jetzt, in den Süden fliegen zu können. „Winterflucht“ nennt man so etwas im Jargon der Tourismus-Branche. Auf und davon, dem trüben Wetter entfliehen. Dorthin, wo es heller, wärmer, besser ist.
Und plötzlich erschrickt man: Winterflucht – das kann mit einem Mal einen ganz anderen Klang haben, als in den Herbst- und Wintertagen der Jahre zuvor. Angesichts der Zehntausenden, die vor bitterster Not tatsächlich auf der Flucht sind, drängt sich die Frage auf: Darf man dieses Wort „Flucht“ für so etwas Banales wie den Wunsch nach Urlaub benutzen?
Dort rennen Menschen um ihr Leben. Sie nehmen größte Strapazen und Gefahren auf sich, um vor Gewalt, Hunger und Krankheit zu fliehen. Hier dagegen träumen Menschen von einem Leben, das noch angenehmer sein könnte, als es ohnehin schon ist.
Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, denen ein schlechtes Gewissen zu machen, die jetzt nach Südtirol oder Sardinien, an die Costa del Sol oder gar nach Kuba reisen. Es geht um etwas anderes: Nämlich um das eigene Erschrecken darüber, wie gut es einem doch geht – und wie wenig man das im Alltag überhaupt noch bemerkt.
Es geht darum, Relationen zu erkennen. Und das heißt: die Verhältnismäßigkeiten.
Sicher, jeder hat so seine Probleme. Und das Problem, das man gerade hat, erscheint einem immer als das größte. Wenn die Prostata drückt, ist das übel. Wenn die Kniegelenke schmerzen, kann einen das fertig machen. Aber die, die ums Überleben kämpfen, würden jubeln, wenn Schmerzen im Knie ihre größte Plage wären.
Die Bilder von Menschen, die verzweifelt und in großer Not sind, sollten bei uns vor allem eines auslösen: nämlich Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Sie können daneben aber auch ein Anlass sein, das wieder und neu wertschätzen zu lernen, was wir haben.
Sicherheit. Essen und Trinken. Ein Dach über dem Kopf. Arzt und Krankenhaus in der Nähe. Das alles ist alles andere als selbstverständlich. Nur ein Bruchteil der Menschheit verfügt darüber. Wir gehören dazu.
Heute ist Erntedank. Noch immer bringen die Menschen an vielen Orten unseres Landes die Früchte des Ackers in die Kirchen. Das ist gut. Denn es erinnert uns daran, dass nichts, aber auch wirklich nichts auf dieser Welt selbstverständlich ist. Wenn wir eine gute Ernte hatten, so preisen wir Gott als Geber der Gaben. Wenn wir in Sicherheit leben und uns nicht ums Überleben sorgen zu brauchen, so sollte uns das nicht weniger Anlass für Dank sein.
Vielleicht müssen das die Menschen hierzulande wieder neu einüben: Dankbarkeit. Vielleicht hilft das, das Nörgeln und die Missgunst einzuschränken. Und: Echter Dank wird auch immer den Not leidenden Nächsten in den Blick nehmen. Denn die ehrlichste Form von Dank ist: abzugeben und den Mitmenschen zu helfen.
Danke, ach Herr, ich will dir danken, dass ich danken kann.