Man geht heute nicht mehr davon aus, dass in 9, 9-13 die Berufung des Evangelisten Matthäus geschildert ist, sondern die des Jüngers mit gleichem Namen. Zwölf Jünger entsprechen den zwölf Stämmen des ersten Gottesvolkes. Diese Jünger sind nun gewissermaßen die Stammväter des neuen Bundes, auch wenn damit die großen Ahnen nicht in ihrer Bedeutung abgewertet werden. Genau wie die Patriarchen sind die Jünger sehr bunte Persönlichkeiten: Fischer, Handwerker oder eben Zollbeamte, jedenfalls nicht aus den Eliten. Bei einigen kann man auch erkennen, dass ihre Biographie keineswegs gradlinig verlief, etwa bei einem, der als Geldeintreiber verachtet war.
In Kapitel 10 folgt mit der „Missions-“, besser „Sendungsrede“ die zweite große „Redeeinheit“ des Matthäusevangeliums. Insgesamt gibt es sechs: Die Bergpredigt (5-7), die Gleichnisrede (13), die „Gemeinderede“(18), die „Pharisäerrede“ (23) und die Rede von der Wiederkunft (24f.). Es geht dem Evangelisten nicht nur um die ersten Jünger, sondern auch darum, wie die Kirche später ihren „Zuständigkeitsbereich“ verstehen sollte. Aus den Jüngern werden Apostel, Sendboten, die das Evangelium in alle Welt verbreiten. Die Botschaft (10, 7) lautet schlicht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Sprachlich ist das Vergangenheitsform (Perfekt!). Das Himmelreich ist also mit Jesus tatsächlich vorhanden, gegenwärtig! Das ist auch der Sinn der Antwort auf die Täuferfrage. Die Verbreitung dieser Botschaft ist dann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen. Es hat so viele Arten der Weitergabe gegeben wie es Anlässe gibt, unterwegs zu sein. Beamte, Soldaten, Geschäftsleute, aber auch Flüchtlinge, Vertriebene und damals vor allem Sklaven, nahmen ihren Glauben mit. Im Laufe der Kirchengeschichte wird es auch viele Auffassungen von christlicher Mission geben, auch die geplante und bewusst organisierte. Normalerweise wird Glaube und Frömmigkeit an die nächste Generation, also die Kinder und Enkel wie selbstverständlich weitergegeben. In Europa waren die iroschottischen Mönche sehr bewusst aber auch über die Grenzen des eigenen Stammes und Volkes aktiv. Die römische Gemeinde hatte von Anfang an in der Weite des Imperium Romanum gedacht. Für die Matthäuszeit muss man bedenken, dass Paulus bereits das Fundament der Weltkirche gelegt hatte, auch wenn etwa manche judenchristlichen Gemeinden diesen Schritt innerlich noch nicht nachvollzogen hatten. Aber genau an dieser Bruchstelle steht das Matthäusevangelium. Die Grenze zur Weltkirche ist geöffnet.