AACHEN – Es wurde als sicheres Medikament gegen Schlaflosigkeit angepriesen. Doch bei schwangeren Frauen hatte die Einnahme des Medikaments Contergan verheerende Folgen: Es führte zu Totgeburten und zu Missbildungen bei Tausenden von Säuglingen. Vor 60 Jahren – am 1. Ok-tober 1957 – brachte die Herstellerfirma Grünenthal in Aachen das Medikament auf den Markt.
Weltweit kam es in der Folge zu Totgeburten und bei etwa 5000 bis 10 000 Kindern zu Missbildungen wie fehlenden oder verkürzten Armen und Beinen. Erst 1961 verdichtete sich der Verdacht, dass der Contergan-Wirkstoff Thalidomid die Ursache ist. Am 27. November 1961 nahm Grünenthal das Präparat vom Markt.
Nach wie vor streitet der Bundesverband Contergangeschädigter mit der Herstellerfirma und der Eigentümerfamilie Wirtz um die Anerkennung von Schuld. Ein Strafermittlungsverfahren gegen Verantwortliche der Firma wurde 1968 eingeleitet. Die Anklage wegen vorsätzlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung wurde aber 1970 nach 283 Verhandlungstagen vom Landgericht Aachen fallengelassen und das Verfahren wegen „geringfügiger Schuld“ eingestellt.
Aufsichtsbehörden waren zu schwach
Zuvor war es zu einem zivilrechtlichen Vergleich gekommen. Dabei hatten der Hersteller und der Bund jeweils 100 Millionen Mark als Entschädigung gezahlt – ein Grundstock für die Conterganstiftung, deren Finanzmittel und Leistungen für die Betroffenen mehrfach erhöht wurden. Eine im vorigen Jahr vorgestellte Studie der nordrhein-westfälischen Landesregierung zur Aufarbeitung des Skandals belegt, dass die Gesundheits- und Justizbehörden im Falle Contergan eine schwache Figur machten. Wegen der damaligen Rahmenbedingungen für die Medikamentenzulassung habe es den Landesbehörden „massive Schwierigkeiten“ bereitet, die Wirkung von Contergan zu klären, die Zahl der Betroffenen festzustellen und das Schlafmittel verbieten zu lassen.
Zugleich weist die Untersuchung darauf hin, dass die Aufsichtsbehörden Grünenthal völlig unterlegen waren. Als in Fachkreisen erste schwere Nebenwirkungen von Contergan beobachtet worden seien, habe der Hersteller mit „gezielter Desinformation und Verzögerungstaktiken“ versucht, das Mittel am Markt zu halten. Dabei habe Grünenthal mit hohen Schadensersatzforderungen gegenüber dem Staat gedroht. Das Unternehmen habe „erheblich schneller größere Ressourcen mobilisieren“ können als staatliche Stellen – etwa durch die Verpflichtung kostspieliger Anwälte. Im Strafverfahren habe die Firma „die absolute Elite der deutschen Strafverteidiger“ engagiert und Presse-Kampagnen inszeniert. Kritischen Beamten sei Grünenthal umgehend mit Dienstaufsichtsbeschwerden und Schadensersatz-Androhungen entgegengetreten.
Resultat schuldhaften Handelns
Der Bundesverband Contergangeschädigter fordert das Unternehmen auf, sich „endlich“ seiner Verantwortung zu stellen. Der Verein wirft Grünenthal vor, den Skandal nur als Folge einer „Tragödie“ zu beschreiben und nicht als Resultat eigenen schuldhaften Handelns.
Demgegenüber betont Grünenthal, dass die Firma bereits über 100 Millionen Euro in die Conterganstiftung zur Entschädigung der Opfer eingezahlt habe. Auch habe sich das Unternehmen am 31. August 2012 durch den damaligen Geschäftsführer Harald F. Stock bei den Betroffenen und deren Familien für deren Leiden und das lange Schweigen der Firma entschuldigt. Überdies sei im selben Jahr die Grünenthal-Stiftung gegründet worden, die Contergan-Opfer unterstütze – über die Leistungen der Conterganstiftung hinaus, die sich seit 1972 geschätzt auf rund eine Milliarde Euro beliefen. Die monatlichen Zahlungen der Stiftung für Betroffene liegen heute zwischen 662 und 7620 Euro.
Die heute weltweit rund 2700 Contergangeschädigten, davon etwa 2400 aus Deutschland, sind mittlerweile zwischen 56 und 61 Jahre alt. Viele leiden wegen jahrzehntelanger Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken und Muskulatur unter den unterschiedlichsten Folgeschäden. Neuerdings beunruhigen Hinweise, dass bei einem Teil der Betroffenen Blut- und Nervenbahnen nicht an den üblichen Stellen liegen, was bei Operationen das Risiko unbeabsichtigter Durchtrennungen erhöht. Eine Studie soll Aufklärung bringen.