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Der Spiegel

„Aus Angst wächst Mut“: In einem neuen Sammelband des Luther-Verlages haben junge Menschen Mutmachgeschichten aufgeschrieben. Eine davon, leicht gekürzt, stammt von Jasmin, 20 Jahre alt

Er steht nackt vor einer Spiegelscherbe, die mit einer Schnur an einem Ast aufgehängt ist. Aus Nervosität lässt er seine alte Rasierklinge fallen. Er bückt sich, mit einer Hand im Rücken gestützt, und hebt die Klinge am Holzgriff vom kupferfarbenen Boden auf. Er streift seine Klinge an einem alten Handtuch ab. Die Rasierklinge gleitet behutsam über seine Wange und seinen Hals. Lediglich die Haare um seinen Mund und um sein Kinn lässt er stehen. Mit einer Nagelschere schneidet er sie auf eine Länge. Heute will er sauber und ordentlich aussehen.
Um ihn herum scheint das Licht sanfter und weniger grell. Er ist in dem Waschbereich seines Hofes. Der Bereich ist durch Wellplatten aus Plastik nach hinten und an den Seiten abgetrennt. Nach vorne schützt ein Vorhang aus Stoffresten das bisschen Privatsphäre. Der Bereich hat kein Dach. Es regnet zu selten und die Hitze würde sich stauen. Außerdem war das Geld nicht da.
Er geht in die Hocke und taucht seine Hände in einen Plastikeimer. Der Eimer hat braune Kratzer an der Seite und ein Loch an der Stelle, wo der Metallgriff ins Plastik eingebunden ist. Er reibt seine rauen Hände im Wasser, bildet mit zwei Händen eine Schüssel und wäscht sich damit den gestern rasierten Schädel ab. Er kommt wieder zum Stehen und nimmt eine orangene Plastiktüte, die an einem Nagel in der Wand hängt. Die Kernseife packt er mit seinen Händen und hängt die Plastiktüte zurück. In der Hocke reinigt er mit einer Katzenwäsche seinen Körper. Schnell, denn der Wind zieht durch den Vorhang.

Als er fertig ist, trocknet er sich ab, bindet sich das Handtuch um seine schmale Hüfte und kommt hinter dem Vorhang hervor. Seine Schritte eilen in Richtung Hütte. Als er eintritt, duckt er sich. Die Hütte besteht aus einem Raum, ohne Fenster und mit niedrigen Decken. Im Sommer wird so ein Großteil der Wärme ausgesperrt und im Winter und nachts die Kälte. Aus einem Stoffbeutel holt er ein blütenweißes Hemd, eine dunkelblaue Stoffhose, einen schwarzen Schlips, einen blauen Pullover sowie schwarze Knöchelsocken.
Seine Beine gleiten in die Stoffhose, sie sitzt ein bisschen locker. Er streift das Hemd über seinen mageren Körper und bindet sich sorgfältig die Krawatte. Seine Hände zupfen den Knoten der Krawatte noch einmal zurecht. Den Pullover stülpt er sich behutsam über seinen Oberkörper.

Nun begutachten seine Augen seine Hände. Sie sind groß und knochig. Falten und Schwielen übersäen die Handinnen- und -außenflächen. Seine Fingernägel sind sauber und die Haut im Nagelbett sorgfältig zurückgeschoben. Die weißen Halbmonde schimmern rosa auf dem Nagelbett, welches von brauner Haut umschlossen ist. Heute möchte er sehr ordentlich sein. Er setzt sich auf seinen Stuhl. Dessen Beine sind von Macken übersät und die Lehne von Kratzern. Den Stuhl hatte er selbst gebaut, vor einer sehr langen Zeit. In seinem ersten Ehejahr mit seiner Frau.
Seine Beine sind steifer geworden. Bedächtig zieht er einen Socken über seinen hageren Fuß. Er verweilt in seiner Stellung. Dann streckt er sein rechtes Bein aus und seine Hände greifen ins Holz. Trotz der Anstrengung muss er schmunzeln. Es überkommt ihn und er muss lachen. Er, Samuel, trägt Socken. Er, Samuel, der sein Leben lang barfuß gearbeitet hat. Mit einem Grinsen im Gesicht zieht er den alten, abgenutzten Sportschuh an. Den ganzen gestrigen Morgen hatte er sie geputzt, mit altem Fett eingerieben und so gut hergerichtet, wie man es mit Schuhen, die man gefunden hat, nun mal machen kann. Das Geld hatte dafür nicht mehr gereicht. Sein rechter Fuß wird auch angezogen und noch einmal muss er lachen. Ihm wird klar, dass er seine Freude nicht leugnen kann.

Er stellt sich fest hin. Der Boden fühlt sich hart an unter den eng gebundenen Schuhen und er wippt von der Hacke vor bis zu den Zehenspitzen und wieder zurück. Ein komisches Gefühl. Sein Lachen wird lauter, denn er kann es nicht fassen. Er! Die Hose wird nochmal glatt gestrichen, wie auch sein Hemd, und er streicht sich über das Gesicht. Seine fast schwarzen Augen treffen die Augen im Spiegel und er atmet tief durch. Sein Atem ist entspannt, als er nach seinem Block und einem Stift greift. Sein Kopf duckt sich, während er aus seiner Hütte tritt.
Die Augen gewöhnen sich schnell an die Helligkeit und er sieht seine wunderschöne Frau vor sich. Das Strahlen in seinem Gesicht entspringt aus der Tiefe seines Herzens. Das Erlebte mit dieser Frau könnte Romane füllen. Es ist nicht mehr nur Liebe, was er empfindet. Es ist Vertrauen, Loyalität und Respekt. Niemand versuchte, den anderen zu ändern, und jeder bemühte sich, das Beste für den anderen zu geben. Diese Frau war mehr, als er je verdient hatte. Mit festen Schritten geht er auf sie zu und drückt sie fest an seine Brust. Sie hebt ihren Kopf, er legt seine Stirn auf ihre und schließt die Augen. „Meine Blume!“, flüstert er, „ich bin dir so dankbar!“ Sie lacht. Ein lautes, ehrliches Lachen von einer Frau, die es im Leben nie leicht hatte.
Seine Augen öffnen sich wieder und er sieht, wie seine älteste Tochter auf ihn zukommt. Sie ist ein gutes Mädchen. Trotz der unehelichen, frühen Schwangerschaft hat sie die Sekretärinnenschule besuchen können. Seine Brust schwillt vor Stolz auf seine ganze Familie.
Sie drückt ihm einen Karton in die Hand. Hinter ihr stehen seine zwei weiteren Töchter und seine vier Söhne. Gott hat ihn gesegnet! Es fühlt sich an, als würde seine Brust gleich platzen. Sie haben alle ihre Kinder mitgebracht. Seine Enkel. Der jüngste Sonnenschein, sein Urenkeltöchterchen, klammert sich an ihre Mutter

Sein kleiner Sonnenschein ist nervös, genauso wie er. Sie haben heute beide einen aufregenden Tag vor sich. Die Älteste drängt ihn dazu, den Karton zu öffnen. Der Deckel hebt sich und er sieht Lederschuhe. Schwarze Lederschuhe. Er guckt fragend zu ihr hoch und seine Tochter legt ihren Arm um ihn und sagt, dass sie die Schuhe gebraucht und ganz günstig ihrem Chef abgekauft habe. Alle seine Töchter hatten zusammengelegt für seinen großen Tag. Er kann es kaum fassen und er umarmt alle gleichzeitig.
Der Kummer über die Umstände, die er seinen Kindern macht, überschattet seine Freude über seine ersten gekauften Schuhe ohne Löcher. Seine Frau ermahnt ihn und sagt, dass er seinen Kindern nicht das Geschenk kaputt machen solle. Er küsst sie alle auf die Stirn und bedankt sich. Seine schmalen Füße, die in seinem einzigen Paar Socken stecken, schlüpfen direkt hinein. Sie sind ein wenig zu groß. Seine Tochter zieht ihm einen Fuß heraus und steckt vorne Papier hinein und wiederholt das Gleiche beim anderen Fuß. Er lächelt sie an.
Sein Sonnenschein hat sich von seiner Mutter gelöst und nimmt den Plastikbeutel von ihrem Vater entgegen. Sie kommt ganz langsam auf ihn zu und sagt: „Babu, das ist für unseren Tag!“ Er fragt sich, womit er so viele Geschenke verdient hat. In der Hand hält er einen blauen Rucksack. Trotz der Gebrauchsspuren an der Oberfläche ist er wunderschön.
Seine Lippe fängt an zu beben und zum Beruhigen nimmt er seine Urenkelin auf den Arm und drückt sie. „Babu, wir schaffen das zusammen“, flüstert sie in sein Ohr, während sie seinen Kopf umarmt. Seine Söhne werden alle zusammen umarmt und dann geht der Urgroßvater mit seiner Urenkelin los.
Hand in Hand. Manchmal muss er seinen Sonnenschein auf den Arm nehmen und über Steinbrocken heben. Nach einer halben Stunde kommen die beiden an und setzen sich in den größten Raum des Gebäudes in die erste Reihe. Ihre Namen werden aufgerufen. Sie stehen auf und setzen sich nach der Begrüßung wieder hin.

Heute ist sein Geburtstag. Er ist 82 Jahre alt geworden. Heute ist sein erster Schultag. Zusammen mit seiner Urenkelin. Eine Träne des Glücks läuft ihm über die Wange, während er mit einem Lächeln und dem Stift fest in der Hand den Buchstaben A schreibt.  Jasmin (20), Schwelm