Auf den Süden Israels schauen seit dem 7. Oktober alle. Doch auch im Norden ist die Lage alles andere als gut. Braucht es einen Krieg gegen die Hisbollah, fragen sich die Bewohner – und sie leiden unter der Unsicherheit.
Seit dem 7. Oktober blickt die Welt auf den Süden Israels und auf Gaza. Der Krieg, ausgelöst durch die Terrorangriffe der Hamas, geht in Tag 110. Doch auch im Norden des Israels, an der Demarkationslinie zum Libanon, ist nichts mehr, wie es war. Rund 50.000 Israelis sind der Evakuierungsanordnung der Regierung gefolgt; sie gilt für alle Orte, die bis dreieinhalb Kilometer von der sogenannten Blauen Linie entfernt liegen. Weitere 35.000 Menschen, so schätzt die israelische Armee, haben sich aus dem weiteren Umland in Sicherheit gebracht. Die Ungewissheit, wie es weitergeht, lastet schwer.
Am See Genezareth scheint die Sonne. Doch Jarden Gil sitzt im Halbdunkel, die Vorhänge zugezogen, damit Matteo schlafen kann. Sein Bettchen steht eingeklemmt zwischen Elternbett und dem Schlafplatz der großen Schwester Sofia. Der Rhythmus des Zweijährigen bestimmt viel vom Alltag der Familie. Privatsphäre gibt es kaum in dem Hotelzimmer, das die Gils seit mehr als drei Monaten bewohnen. Nach dem Angriff der Hamas im Süden haben Jarden und ihre Familie ihren Kibbuz Jiftach verlassen – aus Angst, dass die libanesische Terrororganisation Hisbollah den Anschlag im Norden nachahmen könnte.
Zweieinhalb Kilometer Luftlinie trennen Jiftach vom nächstgelegenen libanesischen Dorf. In den vergangenen Jahren habe man die Hisbollah näher kommen sehen und gewusst, dass jederzeit etwas passieren könnte. Trotzdem: “Ich fühlte mich sicher, es war der sicherste Platz der Welt, mein Zuhause”, sagt die 36-Jährige. Bis zum 7. Oktober, “dem beängstigendsten Tag” in ihrem Leben. Gedanken an die Zukunft verdränge sie meist, weil es ihr das Herz breche. An einem Militärschlag gegen die Hisbollah, sagt sie, führe wohl traurigerweise kein Weg vorbei. “Es muss sich etwas ändern, um es für uns sicher zu machen, hier zu leben. Das erwarte ich von unserer Armee und unserer Regierung, aber auch von den UN und der Welt.”
Mit “Nof Ginosar” hätten sie es für ihr Zuhause auf unbestimmte Zeit noch gut getroffen. “Die Weite ist vergleichbar mit dem, was wir aus Jiftach kennen. Die Kinder sind gewohnt, draußen zu sein, nicht in geschlossenen Räumen.” Dass sehr viele der rund 400 Bewohner von Jiftach ebenfalls in der weitläufigen Anlage des ältesten Kibbuzhotels Israels seien, mache es leichter. “Wir wurden aus dem Leben, wie wir es kennen, herausgeholt. Das Bekannte sind jetzt die Menschen, die wir kennen.” Sie zu sehen, gebe ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Sicherheit ist rar in diesen Tagen in der Region. Es ist der sechste Krieg im Norden, zählt Ariel Frisch. Der Rabbiner ist im normalen Leben Leiter einer religiösen Jungenschule. Seit Anfang Oktober ist er im Notfall-Kommando von Kirjat Schmona. Die Menschen hätten sich an Raketen gewöhnt und daran, in Bunkern Schutz zu suchen. Eine Evakuierungsorder aber sei ein Novum für die 24.000-Einwohner-Stadt. “Wir wissen, was Terror ist; aber dies ist eine ganz andere Geschichte”, sagt Frisch.
Zwei- bis dreitausend Menschen, “die meisten von ihnen unverzichtbare Arbeiter”, sind geblieben, aber auch ein paar Unbelehrbare, “die sich nicht evakuieren lassen, ganz gleich wie groß die Gefahr ist”. Der Rest ist “über das ganze Land verstreut, von Rosch Pina in Obergaliläa bis Eilat am Roten Meer”, so Frisch. Eine Herausforderung für eine Stadtverwaltung, die sonst für ein Gebiet von wenigen Quadratkilometern zuständig ist, aber auch für die Menschen. “Es ist hart, ein Flüchtling im eigenen Land zu sein; vor allem, wenn weite Teile des Landes im Normalzustand sind.”
Normal ist in der Geisterstadt Kirjat Schmona seit Monaten nichts. Katzen streunen durch die leeren Straßen auf der Suche nach Nahrung. Zwischen verwohnten Hochhäusern fällt der Blick immer wieder auf den schneebedeckten Hermon, den höchsten Berg Israels, auch “Auge der Nation” genannt. Von hier blickt man über den Golan, auf Syrien und auf den Libanon. Von hier, von schiitischen Hisbollah-Milizen, die sich nach der 2006 vom Weltsicherheitsrat verabschiedeten Resolution 1.701 eigentlich bis nördlich des Litani-Flusses zurückziehen müssten, droht die Gefahr. Fünf Sekunden habe man bei einem Alarm, sagt Frisch; aber “meist hört man erst die Explosion und dann den Alarm”.
Rund 150.000 Raketen habe die Hisbollah nach israelischen Geheimdienstinformationen; 15.000 ausgebildete Kämpfer und das Potential, die Stadt mit 4.000 Raketen täglich zu beschießen, sagt Frisch. Er sei nicht erpicht auf einen Krieg gegen die Hisbollah und hoffe auf eine Intervention der Welt, eine diplomatische Lösung. Die Hoffnungen dafür schätzt er gleichwohl als gering ein.
Frisch zitiert Golda Meir, die erste und bislang einzige Frau als israelische Regierungschefin, mit ihrem legendären Satz zum Frieden: Der sei nur dann möglich, wenn der Feind seine Kinder mehr liebe, als er den Gegner hasse. Terrororganisationen hingegen, so Frisch, “hassen einen mehr, als sie sich selbst lieben. Da gibt es keine gemeinsame Basis.”
An diese gemeinsame Basis zwischen Juden und Arabern, zwischen Israelis und Palästinensern hat Oded Arbel immer geglaubt. Doch mit dem 7.Oktober seien sie in einer “neuen Welt der Unsicherheit” aufgewacht, mit Bedrohungen, die bis dahin niemand kannte; und in der keiner weiß, was als nächstes kommt, so der 76-Jährige aus Jiftach. Arbel ist im Pilgerzentrum Magdala untergekommen, dem Gästehaus der Legionäre Christi am See Genezareth. Hier schreibt er täglich an einem Tagebuch seiner Familie im Krieg.
Der Veteran der israelischen Armee, der selbst in fünf Kriegen gekämpft hat, schaut wenig optimistisch auf die Zukunft seines Landes. “Ich fürchte, dass die Rechten mit jedem Krieg stärker werden”, sagt er. Und dass nach jedem Libanon-Krieg ein paar Jahre Ruhe an dieser Front geherrscht habe, bevor man merkte, dass sich nichts geändert hat. Ob eine Feuerpause den Bewohnern des Grenzgebietes die nötige Sicherheit bringe zurückzukehren – oder ob es eine militärische Intervention gegen Südlibanon brauche? Oded Arbel ist unschlüssig. “Die Frage ist, wie viele Menschen sterben sollten für ein paar Jahre Ruhe.”