Josef ist sich seiner Sonderrolle wohl bewusst. Er ist das erste Kind von Rahel und Jakob, der bei seiner Geburt schon älter ist und seinen Sohn herzlich liebt und bevorzugt. Der Eifersucht der Brüder ist Josef darum dauernd ausgesetzt. Als Hütejunge hilft er bei den Herden. Viel mehr berichtet die Bibel aus Josefs Jugend nicht. Bis das Träumen beginnt. Von sechs Träumen wird erzählt (1. Mose 37+40+41). Die drei Traumpaare, bei denen der zweite Teil die Bedeutung des ersten unterstreicht, zeigen Bilder aus der Alltagswelt, Worte fallen nicht. Die Träume leiten jeweils eine Wende in Josefs Leben ein.
Brüder sind entsetzt über Josefs Träume
Im Alter von siebzehn Jahren bekommt er von seinem Vater einen festlichen Rock. Stolz trägt Josef die Bevorzugung des Vaters zur Schau. Was er nun träumt, bestärkt sein Selbstwertgefühl. Unbefangen schildert er der Familie die Traumbilder: Es ist Getreideernte. Die reifen Halmbündel liegen, mit Ähren zu großen Garben zusammengebunden, auf dem Feld. Bevor sie zum Dreschen gebracht werden, geschieht Erstaunliches: Wie Gestalten richten sich die Garben auf, und während Josefs Garbe aufrecht steht, verneigen sich die Garben der Brüder wie Diener vor einem König. In die Weite des Himmels führt das zweite Nachtgesicht: Die Familie steht als Sonne, Mond und Sterne am Himmel und verbeugt sich vor Josef.
Die Brüder hören die Worte mit Entsetzen: Sollen sie sich dem kleinen Bruder unterwerfen? Wie kommt der zu diesen Machtfantasien? Ist sein Wunsch die Quelle seiner Träumereien? Gott allein steht die Verehrung der Gestirne zu, denn sie sind seine Geschöpfe für Licht und Zeit. Die Provokation wird selbst Jakob zu viel. Er weist Josef zurecht. Trotzdem behält er die Worte in Erinnerung, denn er weiß, dass Träume Einfallstore für Botschaften Gottes sind. Viele Jahre später trifft tatsächlich ein, was die Traumbilder zeigten: Josef empfängt die Brüder in seinem ägyptischen Amtssitz, sie verneigen sich vor ihm und bitten ihn unterwürfig um Hilfe. Josef versteht diesen Sinn seiner Träume erst im Lauf seines Lebens.
Im Gefängnis geht seine Traumgeschichte weiter
Bevor der märchenhafte Aufstieg beginnt, durchlebt Josef schwere Zeiten. Die Brüder nutzen die erste Gelegenheit, den Jüngeren loszuwerden und verkaufen ihn an Händler, die in einer Karawane nach Ägypten unterwegs sind. Der Vater muss, angesichts des blutgetränkten bunten Kleides, den gewaltsamen Tod Josefs glauben. In Ägypten kommt Josef im Haus von Potifar, dem Chef der Leibwache des Pharao, unter. Hätte der hübsche junge Hebräer die Annäherungsversuche von Potifars Frau nicht zurückgewiesen und ihren Stolz gekränkt, hätte er wohl dort bleiben können. Doch der Hausherr lässt den Unschuldigen ins Gefängnis werfen. Dort beginnt ein zweites Kapitel in Josefs Traumgeschichte.
Zwei Beamte am Königshof, ein Mundschenk und ein Bäcker, sind in Ungnade gefallen und büßen im Gefängnis ihre Strafe ab. Beide werden von Träumen beunruhigt. Verunsichert und missmutig erwachen sie. Sie ahnen, dass die Bilder der Nacht Vorzeichen für ihre Zukunft sind. Aber in der Haft ist keiner der professionellen Traumdeuter verfügbar.
Josef bietet seine Hilfe an. Mit Träumen und ihren Symbolen kennt er sich aus. Im Schlaf sehen die Häftlinge Szenen und Motive aus ihrem realen beruflichen Alltag: Der Mundschenk sieht im Zeitraffer einen Weinstock mit drei Ranken gedeihen, blühen, Früchte tragen. Er gewinnt daraus einen Becher Wein, den der König gnädig annimmt. Drei Tage, erklärt Josef, wird es dauern, dann wird der Mundschenk rehabilitiert und in seinem Amt bestätigt. Die Deutung überzeugt.
Das ermutigt den Bäcker, Josef seinen Traum anzuvertrauen: Drei geflochtene Körbe trägt er auf dem Kopf. Im obersten Korb sind die Speisen für den Pharao aufbewahrt – ungeschützt vor den Schnäbeln der Vögel. Die Auslegung fällt Josef leicht: Zwar hat der Bäcker die Speisen wie gewohnt zubereitet, doch dann vernachlässigt er sein Amt: Er versäumt es, das Backwerk gut aufzubewahren. So geht der Pharao leer aus. Der Hofbäcker kann sein Amt so nicht ausüben und wird sogar sein Leben verlieren: Wie die Vögel im Traum werden Aasfresser kommen und sich von seinem Körper ernähren. Josef behält Recht: Nach drei Tagen werden die Beamten aus dem Gefängnis geholt. Als sie vor dem Pharao zu Boden liegen, erhebt er sie und spricht das Urteil: Der Mundschenk kehrt an den Hof zurück, das Leben des Bäckers endet am Galgen. Josef hat sich als Traumspezialist bewährt.
Josef zieht Nutzen aus seinen Traumdeutungen
Weitere zwei Jahre verbringt er im Gefängnis. Dann öffnet sich eine neue Chance: Der König hat geträumt, aber niemand im ganzen Reich versteht das seltsame Geschehen mit den heimatlichen Motiven: Aus dem Nil treten sieben fette Kühe hervor und weiden. Dann bringt der Fluss sieben magere Kühe zu Tage. Sie fressen die fetten Kühe und werden dennoch nicht satt. Eine andere Szene zeigt sieben volle Ähren im Feld. Sie werden von sieben kargen Ähren verschlungen und vernichtet. Der Pharao ist beunruhigt, denn er weiß: Königsträume geben wichtige Hinweise für die Zukunft des Landes. Er befragt die Traumdeuter im Land. Sie forschen, können aber keine Erklärung finden und die Träume nicht „lösen“, wie die Kunst, schlimme Entwicklungen abzuwenden, heißt. Der Pharao ist verunsichert. Jetzt erinnert sich der Obermundschenk an Josef, den Hebräer mit dem klaren Blick.
Als Josef vor dem Pharao steht, verweist er auf Gott. Dieser allein offenbare den Sinn der Träume. Erst dann interpretiert Josef die Bilder: Das Wasser des Nils bringt dem Land Fruchtbarkeit, so dass auf Feldern und Weiden das Leben gedeiht. Doch dann versiegt seine Kraft: Ganz gegen ihre Natur fressen die Kühe ihre Artgenossen, verschlingen die trockenen Ähren das Korn. Wieder symbolisiert die Zahl die Zeit: Jeweils sieben Jahre werden Fülle und Dürre anhalten.
Die Deutung überzeugt den Pharao, und Josef nützt die Wertschätzung für sich: Er macht Vorschläge zum Umgang mit der Krise. Ein kluger Berater, Aufseher im Land und eine Getreidesteuer von 20 Prozent sollen Abhilfe schaffen. Für den Pharao ist Josef genau der Richtige für dieses Amt. Er verleiht Josef die Insignien der Macht: einen Siegelring, Ehrenkleider und eine goldene Halskette.
Von Träumen oder Traumdeutungen wird von da an nichts mehr berichtet. Die Zukunft trifft so ein, wie Josef sie beschrieben hat. Mit seiner klugen Politik gelingt es, die Auswirkungen der Dürreperiode zu mildern. Bald gibt es nur noch in Ägypten Getreide. Menschen aus anderen Regionen ziehen dorthin.
Gott hat Josef im Traum auf sein Leben vorbereitet
Auch Jakobs Söhne aus Kanaan: Als sie vor dem Getreideverwalter stehen, erkennen sie den Bruder nicht. Sie werfen sich ehrerbietig vor ihm nieder. Jetzt kommen Josef seine frühen Träume in den Sinn. Er beginnt zu verstehen: Im Bündel reifer Ähren sah er sein Amt als Agrarminister schon. Und am Firmament spiegelte sich ein Machtbereich wider, der sich jetzt über das ganze Land erstreckt. So erweisen sich diese frühen Träume als Visionen, und es zeigt sich, 13 Jahre später, dass sie nicht Ausdruck des Hochmuts eines Heranwachsenden waren. Gott hat damals den jungen Josef als künftigen Beschützer und Ernährer seiner Familie eingesetzt.
Anders als in den großen Berufungsreden, gab Gott Josef seinen Plan in einem geheimnisvollen Traum zu erkennen. Seit diesem Tag geht Josef gesegnet und mit Weisheit beschenkt durch die Welt. Seine Macht nutzt er fürsorglich. Ägypten wird für Jakob und seine Nachkommen zur Heimat und es bleibt wichtig für Israels Geschichte: Als Land der Versklavung und später als Zufluchtsort für Maria, Josef und Jesus.