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Der heilige Moment

Gottes Nähe hängt nicht davon ab, ob wir Gebete auswendig können oder den genauen Ablauf des Gottesdienstes befolgen. Warum ist es trotzdem so peinlich, einen Fehler zu machen?

Nichts peinlicher als das: Eine ungeschickte Bewegung, und der Abendmahlswein landet auf dem T-Shirt. Oder das Vaterunser misslingt. Oder der Pfarrer verspricht sich beim Segen am Sarg (siehe auch Seite 11).

Der Schreck, der einem in diesem Moment in die Glieder fährt, ist nicht nur das Gefühl: Ich habe mich gerade ganz fürchterlich ungeschickt angestellt. Ein anderes Empfinden kommt noch dazu: Ich habe einen heiligen Moment entweiht. Einen Moment, der eigentlich Gott in die Mitte stellen sollte und jetzt peinlich und lächerlich geworden ist.
Wahrscheinlich stammt das, was uns zusammenzucken lässt,  noch aus den Urzeiten der Religion, als Rituale eine besondere, magische Nähe zu Gott schufen. Ja, mehr noch: Der Schamane oder die Priesterin erzeugten mit der Ausführung genau festgelegter Handlungen eine Situation, in der Gott anwesend sein konnte. Wie in einem Zeitfenster trafen Gott und Mensch in den rituellen Gesten und Worten aufeinander.
Wenn da etwas schieflief, war die Chance vertan, Gott zu begegnen. Das Ritual war deshalb genauso heilig wie Gott selbst, und der Priester, der das Geheimwissen darüber besaß, wie es richtig ausgeführt wurde, war ein überaus mächtiger Mann.
Natürlich betrachten wir Religion inzwischen viel distanzierter. Unser aufgeklärter Verstand sagt uns, dass Gottes Gegenwart nicht davon abhängt, ob Formeln genau gesprochen oder Handlungen exakt ausgeführt werden.
Schon im Alten Testament, das in seinem Heiligkeitsgesetz sehr viel Wert auf das genaue Befolgen von rituellen Vorschriften legt, gibt es ein Wissen darum, dass es nicht nur um die äußere Form gehen kann. Der Prophet Amos übt in Gottes Namen harsche Kritik an leeren Formeln: „Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!“ Der eigentliche Gottesdienst, so Amos, findet im gelebten Befolgen der Gebote statt: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ Der Glaube muss raus aus den Formeln und seinen Platz im Alltag haben.
Trotzdem ist uns noch ein Gespür dafür geblieben, dass es nötig ist, Gott einen Raum jenseits des Alltäglichen zu schaffen – einen Raum aus seit Generationen überlieferten Worten, Melodien und Gesten. In Gottesdiensten kann dieser Raum entstehen, und in besonderen Lebensmomenten wie Taufen, Trauungen oder Beerdigungen ist er vielen Menschen besonders wichtig. Den wenigen Ritualen, die uns geblieben sind, sollten wir daher Pflege und Aufmerksamkeit schenken.
Und wenn dann doch etwas schiefgeht, ist lächelnde Gelassenheit die beste Reaktion. In dem Wissen: Unser Heil besteht nicht im Befolgen von Ritualen, sondern in Gottes großzügiger Liebe, an der wir uns ein Beispiel nehmen können – gerade dann, wenn unsere heiligsten Gefühle betroffen sind.