Ich habe keinen Garten, doch ich vermisse ihn täglich.
„Sei froh, dass du keinen hast“, meint meine Mutter: „Ein Garten macht viel zu viel Arbeit!“, und ich schüttle den Kopf und denke dabei an meinen Garten. Er gehörte zum Pfarrhaus, in dem wir als junge Familie wohnten: Krumme Apfelbäume standen darin. Im Frühjahr regnete es weiße Blüten, die dufteten wie eine volle Honigwabe. Die Kinder kletterten barfuß im Geäst herum und schaukelten selig in der Hängematte, die zwischen zwei Stämmen gespannt war. Silberpapeln rauschten, wenn wir an Sommerabenden mit Freunden draußen saßen. Nach getaner Schreibtischarbeit lief ich barfuß über das feuchte Gras.
Im Herbst kehrten wir massenhaft Laub zusammen. Ich liebte den würzigen Duft nach Erde und Blättern, und ich mochte es, abends vollkommen fertig und erschöpft zu sein. Ich liebte auch den Muskelkater am Tag danach, ich liebte es auch, auf dem Rasenmäher zu sitzen und über endlose Grünflächen zu knattern, wo das Gras viel zu hoch war, um noch anständig gemäht werden zu können.
Vogelgesang – so sehnsuchtsvoll
Auf dem Nachbargrundstück hatte eine Fuchsfamilie ihren Bau. Im Frühjahr tollten die Jungen in der Morgensonne auf unserem Rasen. Es gab Buntspechte und eine Amsel, die abends in den Baumwipfeln von der Schönheit des Lebens und dieser Schöpfung sang, so dass es wehtat – sie sang so sehnsuchtsvoll, wie nur Vögel es können.
Ich habe diesen Garten geliebt. Doch leider: Es war nicht mein Garten, er war nur geliehen. Mit dem Stellenwechsel zogen wir in eine Altbauwohnung. Ich habe nun einen üppig bepflanzten Balkon, der im Sommer mein zweites Zuhause ist – ein Paradies über den Dächern von Berlin. Doch nachts habe ich einen regelmäßig wiederkehrenden Traum: Es rauschen darin Silberpappeln. Die Amsel singt. Es regnet Apfelblüten.
Alles begann mit einem Garten, und alles endet darin: Die Schöpfung vollendet sich im Paradies, wo Adam und Eva zuhause sind. Gott selber, so erzählt die Genesis, geht in der Abendkühle im Garten Eden spazieren: Alles ist – noch – im Gleichgewicht. Es ist kein Zufall, dass am Ende der auferstandene Jesus wieder in einem Garten Maria Magdalena begegnen wird: Mann trifft Frau, und sie erkennt ihn, den sie zuerst für den Gärtner gehalten hat. Gott und Mensch – im Garten finden sie zueinander.
Ankommen und ausruhen im Grünen
Die Sehnsucht nach dem Garten – sie scheint in unserer menschlichen DNA zu stecken. Wir suchen darin Ruhe und Abgeschiedenheit vor unserem lauten, oft fordernden Alltag. Wir suchen Schatten und Kühle inmitten von Hitzewellen. Wir können uns buchstäblich darin erden und mit dem Gärtnern ein Gegenwicht zur digitalen Existenz schaffen, die so wenig sinnlich und körperlich ist und von vielen als Entfremdung vom Wesen des Menschen empfunden wird.
Wir können ankommen und ausruhen im Grünen, denn: Was gibt einem mehr Halt in dieser globalen Welt, als die Abgeschiedenheit und Konzentration eines Gartens?
Auch das gehört dazu: Gärten sind überschaubar, weil sie abgegrenzt sind. Sie haben Zäune, Hecken, Mauern, die sie umgeben. Eine Pforte gewährt Eingang. Gärten benötigen diesen Schutz als Abgrenzung nach außen, sonst graben die Wildschweine alles um oder laden andere hier ihren Müll ab. Sonst kommen Menschen rein, die ich nicht haben will. Gärten sind in der Regel privat – oder mindestens gesichert durch Eintritt, der erhoben wird. Sie stehen nicht allen uneingeschränkt zur Verfügung.
Der Gartenzwerg im Kleingärtnerparadies mag daran auch erinnern: Mein Garten ist immer auch ein mühsam bewahrtes Stück heiler kleiner Welt, ein Ausblenden der Realität da draußen, ein Stück Weltflucht, ein Versuch der Ausgrenzung. In Großstädten, wo Lebensraum knapp ist, sind Wohnungen „mit Gartenanteil“ unerschwinglich – und bei Tageslicht besehen kaum Garten zu nennen, eher zwei Quadratmeter harter Boden direkt neben Parkplätzen und Mülltonnen. Gärten sind Luxus. Die einen haben ihn – die anderen nicht. Sie müssen leider draußen bleiben – so wie Adam und Eva nach dem Sündenfall. Und dennoch bleibt die Sehnsucht bei vielen nach einem kleinen Stück Paradies.
Jeder Garten ein Versprechen
Denn: Gärten sind Orte der Beständigkeit und der Vertrautheit: Beheimatung der Seele. So wie jede Gartenbesitzerin weiß, wie die Rosen an der Hecke duften und wo der Kirschbaum steht, so ist jeder Garten ein Versprechen: Auf jeden Frühling folgt der Sommer, auf Sommer folgen Herbst und Winter. Auf die Starre folgt blühendes Leben und üppige Fülle, folgt Ernte, ehe alles von vorne beginnt. Ein verlässlicher Kreislauf aus Werden und Vergehen, Sterben und Wachsen. In Zeiten des rasanten Wandels werden Gärten zu Fixpunkten, an denen ich andocken kann, wenn ich mich zu verlieren drohe. Wer durch Gärten spaziert, egal ob zuhause oder auf Reisen, der taucht ein in diesen Kreislauf und spürt, wie dabei die Zeiten ineinander fließen. Der Garten erschließt mir die Relativität meiner eigenen Existenz.
Gärten sind ein Geschenk. Orte auf Zeit. Mein Verweilen darin ist begrenzt. Es gibt ein Leben jenseits des Paradieses. Doch oft genügt ja bereits das Wissen darum, dass es dieses Paradies gibt. Ich muss nicht immer dort sein. Es genügt eine kurze Auszeit – ein Spaziergang am Abend, ein Kaffee in der Morgensonne, ein Picknick auf der Decke und manchmal auch ein Traum in der Nacht. Jeder Garten ist ein Tor zurück an den Ursprung – hier kann ich sein, kann ich wieder zu mir finden – auf Tuchfühlung mit Gott und seiner Schöpfung. Ein Bild dafür ist der betende Jesus im Garten Gethsemane.
Die schönsten Gärten
Wo liegen die schönsten Gärten? Einen habe ich beschrieben. Der andere liegt in Verona: Versteckt hinter Häusermauern befindet sich der Giardino Giusti, einer der letzten noch ursprünglich angelegten Renaissancegärten Italiens. Dort erwarten einen römische Statuen, eines der ältesten Heckenlabyrinthe Europas, Wasserspiele und Zypressen. Goethe hat den Garten auf seiner Italienreise besucht. Über die Zypresse schrieb er: „Ein Baum, dessen Zweige von unten bis oben gen Himmel streben, der seine 300 Jahre dauert, ist wohl der Verehrung wert.“ 2020 fällte ein Sturm samt Starkregen den Baum. Auch Gärten sind bedroht. Wir brauchen sie – in ihnen begegnet uns Gott.
• Barbara Manterfeld-Wormit ist Rundfunkbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Senderbeauftragte beim rbb.