Was tun, wenn im verstaubten Koffer auf dem Dachboden die Kriegstagebücher des Großvaters auftauchen? Oder in einer Schublade verborgene Liebesbriefe zahlreiche Affären der gerade verstorbenen Mutter belegen, obwohl sie allen als treuer Familienmensch in Erinnerung ist? Verletzt das neugierige Lesen der persönlichen Dokumente die Intimsphäre der Verstorbenen? Beschädigt das Gedenken? Oder haben die Nachkommen ein Recht, die Tagebücher zu lesen?
Tagebücher könnten auch von anderen gelesen werden
„Ein striktes moralisches Verbot, alte Tagebuchaufzeichnungen zu lesen, kann ich nicht erkennen“, sagt der Freiburger Kulturphilosoph Urs Sommer. Er argumentiert, dass letztlich jeder Tagebuchschreiber, der seine Aufzeichnungen nicht selbst vernichtet, grundsätzlich damit rechnen sollte, dass sie einmal ein anderer als er selbst lesen könnte. Positiv gewendet ist die Beschäftigung mit den schriftlichen Hinterlassenschaften der Vorfahren für Sommer sogar ein Akt des Respekts: „Ein Tagebuch ist vielleicht das letzte verbliebene direkte Relikt eines Lebens, einer Persönlichkeit. Und in diesem Fall sollte ich die Aufzeichnungen auch angemessen würdigen – indem ich sie mir genau anschaue und keineswegs achtlos oder aus falscher Scham vernichte.“
Experten verweisen zugleich darauf, dass es keine standardisierten Patentrezepte im Umgang mit intimen Bekenntnissen und Einblicken in Alltag und Lebensgeschichte geben kann. Letztlich bleibt es eine Gewissensentscheidung, wie jeder Einzelne mit den Fundstücken umgeht.
Eine Ausnahme bilden Aufzeichnungen, die juristisch von Belang sein könnten, etwa wenn Kriegstagebücher Hinweise auf nicht verjährende Verbrechen wie Völkermord geben könnten. Dann ist es unbedingt angezeigt, die Dokumente den Strafverfolgungsbehörden zugänglich zu machen.
Gründe für und gegen das Aufheben
Weitaus häufiger als solche Extremfälle dürften aber persönliche Erinnerungen ungelesen im Müll landen. Etwa wenn Erben ein Haus ausräumen und schnell Platz schaffen wollen. Auch wenn Menschen im Alter in eine kleinere Wohnung oder in ein Heim umziehen, gehen häufig persönliche Notizen verloren. Keineswegs immer als bewusste Entscheidung, die Zeugnisse des Nachdenkens über das eigene Leben vernichten zu wollen, sondern eher aus schlichtem Platzmangel oder fehlender Energie, die Tagebücher für die Zukunft zu bewahren.
Dass es anders gehen kann, beweisen die bis unter die Decke reichenden Regale im Deutschen Tagebuch-Archiv. Im Alten Rathaus im baden-württembergischen Emmendingen ist eine bundesweit einzigartige Sammlung von Tagebüchern, Briefen und Selbstzeugnissen aus mehr als 200 Jahren entstanden. „Wir verstehen es als eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, Geschichte von unten zu dokumentieren und damit dem Vergessen zu entreißen“, erklärt Friedrich Kupsch vom Vorstand des Archivs.
Seit den improvisierten Anfängen des Projekts Ende der 1980er Jahre ist das Archiv kontinuierlich gewachsen. Heute gehören fast 18 000 Dokumente von 3600 Autorinnen und Autoren zu den in alterungsbeständigen grauen Kartons lagernden Beständen. Tendenz steigend. Das älteste ist das Tagebuch des württembergischen Pfarrers Gottlieb Christoph Bohnenberger aus dem Jahr 1760. Mehrere Tagebuchschreiber liefern heute jeweils zu Jahresbeginn ihre Niederschriften des Vorjahres ab und stellen sie damit Forschung und anderen historisch Interessierten zur Verfügung.
So erlauben die Tagebücher und Briefe beispielsweise Einblicke in das Dorfleben im 19. Jahrhundert und dokumentieren das Alltagsleben oder die Frontgreuel der beiden Weltkriege. „Anders als die Staatsarchive oder etwa das Deutsche Literaturarchiv Marbach beschränken wir uns nicht auf die Zeugnisse von Prominenten und Literaten, sondern sammeln die Lebenszeugnisse von Frau und Herrn Jedermann“, so Marlene Kayen, die den Vorstand des Archiv-Trägervereins leitet. Ein großes Team von Ehrenamtlichen erfasst neu an das Archiv gesandte Texte, katalogisiert und versieht sie für die Recherche mit Schlagworten. Viele Bände sind per Volltextsuche über den Internetkatalog recherchierbar. Für Sozialwissenschaftler und Historiker, aber auch für Buchautoren hat sich das Emmendinger Archiv zum Geheimtipp entwickelt. Mehr als 70 Forschungsarbeiten sind in den vergangenen vier Jahren entstanden. Kürzlich erschien eine Zusammenschau von Tagebucheinträgen aus dem Ersten Weltkrieg. Dabei hat das Team um Kayen und Kupsch stetige Finanzsorgen. „Uns fehlt eine nachhaltige, langfristige öffentliche Förderung, um unsere Arbeit zukunftsfest zu machen.“
Das Schreiben ist wieder modern geworden
Zugleich beobachten die Emmendinger Experten einen aktuellen Boom des Tagebuchschreibens – in höchst unterschiedlichen Formen: Die eine schreibt mit edlem Füller täglich in ihr Büttenpapier-Heft, der andere nutzt die Smartphone-Tagebuch-App, ein dritter dokumentiert seinen Alltag in Online-Foren oder Blogs. „Tagebuchschreiben bedeutet Weltdeutung, eine Selbstvergewisserung über mich und meine Welt. Das war vor 200 Jahren so – und wird hoffentlich auch künftig so bleiben“, sagt Marlene Kayen.