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Das Geheimnis des Tuns

Erst der Schreck – dann die Erkenntnis: Die Aufnahme von Flüchtlingen verändert eine Gemeinde. Erfahrungen von Gottfried Abrath, Pfarrer der Erlöserkirchengemeinde Iserlohn

Als der Flüchtlingsberater der Diakonie kurz vor dem Konfirmandenunterricht anrief, fiel mir erst einmal die Kinnlade runter: Die Stadt müsse 20 Flüchtlinge unterbringen, gleich morgen! „Geht das im Gemeindehaus bei euch?“ Ehrlich gesagt war Begeisterung nicht meine erste Grundstimmung. Sofort waren die vielen Fragen da: Was kommt da auf mich zu als Pastor, was kann man dem Küster abverlangen, wie könnte man die Gruppenarbeit umleiten auf andere Räume, was wird aus dem großen geplanten Jugendevent?

Viele Fragen erledigten sich von selbst

All diese Fragen waren ja nicht falsch und viele Schwierigkeiten traten dann genauso ein. Was ich aber unterschätzt habe war, wie sehr das einfache Beginnen mit dieser elementaren Aufgabe anfängt, uns als Kirche zu tragen. Ich fühlte deutlich: Wir können als Christen jetzt einfach nicht Nein sagen. Es geht nur darum, uns aufzuraffen, die anstehenden Fragen anzupacken und zu klären. Und das Presbyterium, das noch am gleichen Abend den Beschluss fasste, fühlte es ganz ähnlich.
 Seltsam, es verbreitete die anstehende Aufgabe eine geradezu frohe Stimmung. Wir können endlich aus der Zuschauerrolle heraustreten, etwas bewegen, Menschen ein Stück Heimat zurückgeben. Dabei geht es nicht um blinden Aktionismus, um Machertum und Schulterklopfen. Es geht darum anzufangen in großem Vertrauen, dass es gehen wird. Das ist eher eine Glaubensfrage. Wenn Gott uns die Liebe zu den „Fremdlingen“ so ans Herz legt, wird er uns gerade in dieser Fürsorge auch stark machen.
Und am nächsten Tag kamen sie. Zwei syrische Familien, zwei Väter, kontaktfreudig, zwei Mütter, eher zurückhaltend, sechs Kinder, bald schon sehr zutraulich, und vier Jugendliche, irgendwie dabei. Für jede Familie war ein Raum vorhanden. Die Betten hatte die Stadt sofort vorbeigebracht, mit Matratze und Kühlschrank, später auch eine Waschmaschine. Eine Notunterkunft, sicher. Aber besser als jede Turnhalle. Es war gut, dass wir vor zwei Jahren eine Dusche in ein behindertengerechtes WC gebaut haben.
Womit ich auch nicht gerechnet hatte als Bedenkenträger: Die Familien nahmen uns selbst an die Hand. Schon am Nachmittag wurde ich gleich zum Essen eingeladen. Pommes mit Gyros und Zaziki. Unterhaltung mit Händen und Füßen. Lachen. Plötzlich war das Gemeindehaus ein Wohnort geworden, ein gastlicher sogar für mich, der ich doch dort arbeite.
Am Abend unterhielten wir uns mit Helfern und Gruppenvertretern. Natürlich überlegten wir wieder Antworten auf viele Fragen. Aber nun war es viel stärker darauf gerichtet zu fragen: Was brauchen die Familien, was muss besorgt werden, wie werden sie heimisch? Viele Hilfsangebote kamen und wir mussten sortieren: Was passt jetzt, was wünschen sich die beiden Familien?
Es ist keineswegs einfach, was jetzt notwendig ist, wozu wir aufgefordert sind. Indem wir die Aufgabe anpacken, spüren wir sofort die Möglichkeiten, die wir haben. Leute rufen an: Ich könnte auch etwas beitragen, vorbeibringen: Töpfe, Besteck, Kleidung, Spielzeug. Ich will auch mitmachen. Sie spüren alle: Es ist gut, dabei mitzutun. Das ist das Geheimnis des Tuns, das der jüdische Theologe Friedrich Weinreb einmal beschrieben hat: Es nimmt dich mit. Menschen in Not nehmen uns mit auf neue Wege. Die Weihnachtsgeschichte wird sehr konkret.
Angst vor Überforderung? Das schöne Gemeindehaus geht kaputt? Wir werden ausgenutzt? Alles ist jetzt Nebensache. Wenn ein Mensch zu dir kommt, der alles verloren hat, dann sagt es innen: Ich kann es wagen.