Predigttext
16 Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. 17 Hierin ist die Liebe bei uns vollendet worden, dass wir Freimütigkeit haben am Tag des Gerichts, denn wie er ist, sind auch wir in dieser Welt. 18 Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat es mit Strafe zu tun. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe. (Übersetzung: Elberfelder Bibel)
Eine besondere Erinnerung an meine Oma fällt in die Zeit, als sie im Sterben lag. Sie hatte eine Gehirnblutung und war im Krankenhaus. Es stand schlecht um sie. Eigentlich hätte sie schon tot sein müssen. Das viele Blut im Kopf. Wegen der Demenz und der Rückbildung des Gehirns jedoch war der Druck nicht zu hoch. Richtig wach war sie aber nicht mehr.
Irgendwann kam der Krankenhausseelsorger. Um das Bett sitzend beteten wir. Meine Oma wurde gesegnet und auf ihrer Stirn glänzte ein Ölkreuz. Bevor der Seelsorger ging, hinterließ er einen Zettel mit einem Bild und einem Gebet. Als er auf dem Weg zur Tür war, gab es ein Räuspern. Meine Oma öffnete die Augen und sagte mit knarzender Stimme: „Jetzt habe ich wohl die Eintrittskarte!“
Im ersten Moment habe ich sehr gelacht. Aber es gab auch einen Zweifel, ob so viel Forschheit in ihrer Situation angebracht ist.
Wo komme ich an, wenn ich sterbe?
Ein paar Jahre später besuchte ich als Pfarrerin einen Mann zum Geburtstag. Wir saßen in der kleinen Küche und aßen polnischen Wurstsalat. Der Mann erzählte, was er erlebt hatte, als bei einer Operation sein Herz aussetzte. Er habe an einem Fluss gestanden. Auf der anderen Seite war es hell. Dort habe es ihn hingezogen. Seitdem frage er sich, ob er nach seinem Tod übersetzen wird. Was aber, wenn nicht?
Die Ernsthaftigkeit des Mannes beeindruckte mich. Die Furcht, die er trotz seines Glaubens hatte, machte mich aber auch nachdenklich. Ich habe mich manches Mal gefragt, ob es eine christlich korrekte Art gibt, auf das Ende zu schauen.
Die Verse aus dem 1. Johannesbrief zeigen eine Richtung. Diese kristallisiert sich um ein Wort aus dem Bibeltext (Vers 17). Mal wird es mit „Freimütigkeit“ oder bei Luther mit „Zuversicht“ übersetzt. Im Griechischen heißt es „Parrhesia“ und kommt vom „pan resis“ und heißt „alle Dinge sagen“. In der Antike war damit die Redefreiheit der griechischen Bürger gemeint. Daraus wurde ein philosophisches Konzept. Mit Redefreiheit wurde nicht nur das Recht zum öffentlichen Reden verbunden, sondern auch der moralische Anspruch, die Wahrheit auszusprechen. Und so bekam das Wort die Bedeutung „wahrsprechen“. Und wer wahrsprechend ist, der und die hat auch ein besonders nahes Verhältnis zur Wahrheit. Die Wahrheit war in ihm und um ihn.
Ein Fürsprecher: Jesus Christus
Im 1. Johannesbrief wird gesagt, dass wir „Parrhesia“ haben am Tage des Gerichts. Wenn wir also Wahrsprechende sind, dann heißt es, dass wir der Wahrheit nahe sind und die Wahrheit uns nahe ist. Dass Jesus Christus nicht oben auf einem Richterstuhl thront oder entfernt auf der anderen Flussseite steht. Sondern wir in greifbarer Nähe zu ihm sind.
Ich stelle es mir so vor, dass Jesus dann neben uns steht, wenn wir Bilanz ziehen und auf das Leben blicken. Und dass diese Nähe uns mutig macht. Mutig macht, auf das Gewesene zu schauen. Und mutig macht, vor Gott und sich selbst zu klagen, zu zweifeln und auszusprechen, was noch gesagt werden will.
Kein Augenblick von Furcht
Jesus steht als engagierter Pflichtverteidiger daneben, der das Beste für uns rausholt. Versteht man ‚Parrhesia‘ in diesem Sinne als eine Aussage über die Nähe, die wir am letzten Tage zu Jesu haben, dann wird deutlich, dass es kein Augenblick von Furcht sein wird.
Den freimütigen Spruch meiner Oma kann ich inzwischen als solche Nähe deuten. Es war weniger das Zettelchen als vielmehr das Ölkreuz auf ihrer Stirn, das als Eintrittskarte fungierte. Dieses Zeichen Jesu und seiner Nähe ließen uns schon etwas von der Freimütigkeit ahnen, mit der sie sich zu ihrem Schöpfer aufmachte. Die Freimütigkeit, zu der Jesus uns befähigt.