Der Pendler in der S-Bahn blickt aufs Handy, anstatt der älteren Dame seinen Platz anzubieten. Der Passant im Einkaufszentrum drängelt sich an der jungen Mutter vorbei, anstatt ihr zu helfen, den Kinderwagen die wenigen Stufen hinaufzutragen. Solche Szenen spielen sich täglich unzählige Male in Deutschland ab – Alltagsszenen, mit denen sich Julia Rath nicht abfinden will.
„Immer häufiger sehe ich Menschen, die in der Öffentlichkeit mit Lautsprecher telefonieren oder in der U-Bahn Videos mit Ton anschauen“, sagt sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Gutes Benehmen ist in erster Linie eine innere Haltung gegenüber anderen Menschen.“ Julia Rath ist Knigge-Expertin und Benimm-Trainerin – und als solche eine gefragte Frau. Die Stuttgarterin unterrichtet Heranwachsende in Etikette, gibt Seminare in Unternehmen und schult Führungskräfte. „Gerade nach den letzten Jahren, in denen die digitale Kommunikation den persönlichen Kontakt vielfach ersetzt hat, wächst das Bewusstsein für den Wert von Präsenz, Auftreten und Umgangsformen“, sagt sie.
Gutes Benehmen sei wieder gefragt, so Rath. „Viele spüren, dass respektvoller Umgang und wertschätzende Kommunikation wieder an Bedeutung gewinnen – privat wie beruflich.“ Meinungsumfragen stützen diesen Eindruck: 94 Prozent der Deutschen sagen, ihnen sei gutes Benehmen persönlich wichtig. Doch zwei Drittel empfinden, dass sich die Umgangsformen in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert haben. Rund jeder Zweite bemerkt, dass „Bitte“ und „Danke“ seltener werden, mehr als die Hälfte beobachtet zunehmende Respektlosigkeit.
Was auf individueller Ebene unhöflich wirkt, hat auf gesellschaftlicher Ebene weitreichende Folgen. Für den Soziologen Heinz Bude aus Kassel sind Höflichkeit und ein respektvoller Umgang miteinander wichtige Bausteine, um soziale Konflikte zu vermindern und das Miteinander zu stärken. Gerade in Krisenzeiten stehe der gesellschaftliche Zusammenhalt unter Druck und müsse neu definiert werden, sagt er.
Wie zentral ein gutes Miteinander ist, wusste bereits der Ur-Vater guten Benehmens, Adolph Freiherr von Knigge (1752-1796). In seinem Buch „Über den Umgang mit Menschen“ ging es ihm nicht in erster Linie um gutes Benehmen und Anstandsregeln, sondern vor allem um den Umgang der Bürger miteinander. Eine seiner zentralen Einsichten: „Die Kunst des Umgangs mit Menschen besteht darin, sich geltend zu machen, ohne andere unerlaubt zurückzudrängen.“ Heute gelten die „Knigge-Regeln“ als Inbegriff guten Benehmens – mit Ratschlägen, die vom respektvollen Verhalten bis zu Kleidung und Tischsitten reichen.
Der äthiopisch-deutsche Unternehmensberater und Buchautor Asfa Wossen-Asserate sieht die Wurzeln für Anstand und gutes Benehmen ganz wesentlich in der jüdisch-christlichen Tradition. „Jesus ist der Begründer der guten Manieren“, sagte der in Frankfurt am Main lebende Autor des Bestsellers „Manieren“ 2004 in einem Interview. „Denn er ist doch derjenige, der gesagt hat, liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
Zwar ist der Glaube kein Garant für gutes Benehmen, doch Studien zeigen Zusammenhänge zwischen Religiosität und sozialer Verantwortung. So fördert eine religiöse Sozialisation Werte wie Rücksichtnahme und Solidarität. Konkret engagieren sich Menschen mit religiöser Bindung demnach häufiger ehrenamtlich, spenden mehr und zeigen im Alltag nachweislich mehr Empathie.
Für Knigge-Trainerin Julia Rath ist gutes Benehmen – unabhängig von religiösen Überzeugungen – nichts anderes als ein Ausdruck von Empathie und sozialem Verantwortungsgefühl. „Ein guter Umgang miteinander ist der Kitt unserer Gesellschaft“, sagt sie. „Ohne diese Basis verliert eine Gesellschaft an Zusammenhalt.“ Schon deshalb wünscht sie sich ein Zurück zu einer „Kultur der Rücksichtnahme und Wertschätzung“. (2738/29.10.2025)