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Cold Case nach fast 700 Jahren neu aufgerollt

Ein Priester wird auf Londons Straßen brutal ermordet. Knapp 700 Jahre später rollen Forscher den Fall neu auf. Sie stoßen auf Affären, Intrigen, einen mafiösen Mord und das große Schweigen der Justiz.

Im London des Jahres 1337 herrscht geschäftiges Treiben: Händler brüllen ihre Preise über die Gassen von Cheapside, Menschen drängen sich zwischen Ständen, Tavernen und Kirchen. Mitten in diesem bunten Treiben wird ein Mann brutal niedergestochen – ein Priester, auf offener Straße, direkt vor den Augen der Öffentlichkeit. Es ist kein Raub, kein Zufall sondern ein sorgfältig geplanter Mord.

Dieser Cold Case wurde erst jetzt gelöst – von einem Kriminologen der Universität Cambridge, Manuel Eisner. Mit einer Pressemitteilung und einem wissenschaftlichen Aufsatz hat Eisner, zusammen mit einem größeren Team, Ergebnisse des Projektes “Medieval Murder Maps” (Mordkarten des Mittelalters) vorgestellt. In diesem Zusammenhang ist Eisner mit seinem Team auf diesen Fall gestoßen.

Aufzeichnungen, die Manuel Eisner zusammengetragen hat, deuten darauf hin, dass die Ermordung von John Forde im Jahr 1337 ein Rachemord war. Er wurde von der Adligen Ela Fitzpayne in Auftrag gegeben, die zu jahrelanger entwürdigender Kirchenbuße verurteilt wurde, nachdem der Erzbischof von Canterbury, Simon Mepham, entdeckt hatte, dass der Geistliche ihr Liebhaber war.

Der Priester John Forde war auch nicht ohne. Nicht nur, dass er offensichtlich eine Beziehung zu Ela Fitzpayne hatte, die beiden raubten auch im Jahr 1331 gemeinsam mit Elas Ehemann ein Klostergut aus. Ihre Beute: 18 Ochsen, 30 Schweine und etwa 200 Schafe und Lämmer. Weil sie offensichtlich ein Zeichen setzen wollten, haben sie auch noch mutwillig die Gebäude beschädigt.

Als ihre Beziehung zu Forde 1332 aufflog, so der Kriminologe, wurde lediglich Ela von der Kirche bestraft. Sie durfte nach Ausweis der Dokumente keinen wertvollen Schmuck tragen und musste viel Geld an Ordensgemeinschaften und arme Menschen spenden. Die größte Strafe war jedoch, dass sie jedes Jahr im Herbst barfuß durch das Kirchenschiff der Kathedrale von Salisbury eine Wachskerze zum Altar tragen sollte.

“Der Versuch, Ela Fitzpayne öffentlich zu demütigen, könnte Teil eines politischen Spiels gewesen sein, da die Kirche die Moral nutzte, um dem Adel ihren Stempel aufzudrücken, wobei John Forde zwischen die Fronten geriet”, so Eisner in der Pressemitteilung der Universität Cambridge. Ela weigerte sich und zeigte, dass sie einen langen Atem hatte.

Am 3. Mai 1337 wird der Priester John Forde von einem anderen Priester, Hasculph Neville, angesprochen. Gemeinsam gehen sie Richtung St. Pauls Kathedrale. Plötzlich tauchen drei weitere Männer auf. Einer davon: Hugh Lovell, Elas Bruder. Er schlitzt mit einem Messer die Kehle von Forde durch, die anderen beiden Männer stechen mit Messern in den Bauch des Priesters. Der Mord ist brutal und öffentlich.

Erstaunlicherweise wird der Fall damals genau dokumentiert. Eine Jury aus 33 Männern wird einberufen – ein Rekord. Die Täter werden identifiziert, das Motiv ist offensichtlich. Und doch: Es passiert nichts. Nur ein einziger Komplize wird Jahre später verurteilt. “Obwohl die Mörder namentlich genannt werden und der Anstifter klar bekannt ist, drücken die Geschworenen ein Auge zu, wenn es um die Verfolgung der Täter geht”, so Eisner.

“Die Art und Weise, wie Forde am helllichten Tag vor einer Menschenmenge öffentlich hingerichtet wurde, ähnelt den politischen Morden, die wir heute in Ländern wie Russland oder Mexiko beobachten. Sie soll daran erinnern, wer die Kontrolle hat”, sagt der Kriminologe in der Pressemitteilung. “Wo die Rechtsstaatlichkeit schwach ist, sehen wir Morde, die von den höchsten Rängen der Gesellschaft begangen werden, die die Macht in ihre eigenen Hände nehmen, egal ob es heute oder vor sieben Jahrhunderten war.”

Dieser Cold Case aus dem 14. Jahrhundert ist ein besonders spektakulärer Fall des “Medieval Murder Maps”-Projekts. Anhand von digitalen Karten und Aufzeichnungen hat das Team um den Kriminologen Eisner in den Städten London, York und Oxford Hotspots der Kriminalität im 14. Jahrhundert nachgewiesen.

Die Morde ereigneten sich nach ihren Erkenntnissen in der Regel an öffentlichen Orten. Bei den Tätern handelte es sich zumeist um Männer – nur in sehr wenigen Fällen waren Frauen die einzigen Verdächtigen. Was die Waffen betrifft, so wurden am häufigsten Messer und Schwerter unterschiedlicher Art verwendet. Das größte Risiko eines gewaltsamen Todes in London bestand demnach an den Wochenenden am frühen Abend.