Kaum ein Auto fährt über die lang gezogene Landstraße im Süden Chiles. Zwischen kleinen Häusern, umgeben von Weideflächen und Kartoffelfeldern, liegt das örtliche Gesundheitszentrum von Tenaún.
Fernanda Espindola ist hier eine von zwei Pflegefachkräften, die täglich die Landbevölkerung empfängt und seit etwa einem Jahr teilweise auch vor Ort behandeln kann. „Ich bin der Arm der Ärztin“, erzählt Espindola mit einem Lächeln.
Ein Klick genügt, damit auf ihrem Bildschirm ein virtueller Warteraum erscheint – und wenig später eine Ärztin, die in der 1.100 Kilometer weiter nördlich gelegenen Hauptstadt Santiago sitzt. Gemeinsam untersuchen sie die Menschen und stellen Diagnosen. „Ich lerne jedes Mal dazu“, sagt Espindola.
Chile ist ein Land mit teilweise sehr dünner Bevölkerungsdichte. In ländlichen Regionen kommt laut offiziellen Zahlen teilweise gerade einmal ein Arzt auf mehr als 600 Personen. Zum Vergleich: In Deutschland war es laut Gesundheitsministerium im bundesweiten Durchschnitt ein Arzt pro 198 Einwohnerinnen und Einwohner. Um dennoch die medizinische Versorgung auch in dünn besiedelten Regionen sicherzustellen, setze die Regierung in Chile seit der Corona-Pandemie auf Telemedizin, erklärt María José Letelier. Sie leitet das digitale Krankenhaus des chilenischen Gesundheitsministeriums von Santiago aus.
„Es ist schwer, spezialisierte Fachkräfte für ländliche Regionen zu finden“, sagt Letelier. „Nun können wir sogar Fachärzte einstellen, die sich derzeit zwecks Zusatzausbildung im Ausland befinden.“
Das Ministerium setzt auf zwei Hauptformen der digitalen Behandlung: Videoanrufe für allgemeinmedizinische Anliegen und ein zweites System für Facharztkonsultationen. Dabei werden Untersuchungsergebnisse an Spezialisten übermittelt, die daraufhin eine erste Diagnose stellen. So können Eingriffe früher vorgenommen werden, und die Patienten müssen nicht mehr für jede Frage in die nächste Großstadt fahren.
Flächendeckend werden bisher vor allem die Facharztanfragen eingesetzt. Bei der Erstberatung ist die halb-digitale Behandlung für viele Menschen laut Pflegerin Espindola noch gewöhnungsbedürftig. Dennoch blickt sie positiv auf die Entwicklung: „Wir haben nun mehr Sprechstunden und müssen die Patienten seltener ins nächste Gesundheitszentrum schicken.“
Von der Telemedizin profitiert auch José Carimoney Millao. Der 82-Jährige hatte sich vor zehn Jahren als Ortsvertreter für die Eröffnung der Einrichtung eingesetzt und lebt zwei Autominuten von ihr entfernt. Als seine an Demenz erkrankte Ehefrau Anfang April von einer Biene gestochen wurde, gingen sie zusammen ins Gesundheitszentrum. „Da war aber kein Arzt“, berichtet der Landwirt. Die Pflegerin habe sich dann mit dem Computer verbunden und seiner Frau ein Medikament verschrieben. Früher wäre dies nur möglich gewesen, wenn zufällig gerade ein Arzt oder eine Ärztin vor Ort gewesen wäre.
Zurück zu Hause hatte die Familie zuerst Misstrauen in die Diagnose und Behandlung. „Sie haben mich gefragt, wer die Medikamente verschrieben hat“, erzählt Carimoney. „Ich sagte, die Ärztin am Computer. Daraufhin waren alle beruhigt.“
Während das Gesundheitsministerium zu Beginn auf Eigenentwicklungen setzte, kauft es inzwischen auch immer mehr Software und digitale Lösungsmodelle ein. Chile ist dabei zu einem Testfeld internationaler Unternehmen geworden – auch aufgrund der weniger strengen Datenschutzbestimmungen als etwa in der EU. Kritik daran gibt es kaum, obwohl in der Vergangenheit digitale Patientenakten auch dazu genutzt wurden, um politische Gegner zu diffamieren.
Die Chilenin Josefina Benavente arbeitet für das japanische Technologieunternehmen ALLM. Derzeit erprobt der Konzern in Chile ein Angebot, bei dem medizinische Befunde mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) gefiltert und dann an Fachärzte weitergeleitet werden. Es gehe nicht darum, Fachärzte zu ersetzen, sondern sie nur dann einzusetzen, wenn dies zwingend nötig sei, sagt Benavente. Denn spezialisiertes medizinisches Personal sei teuer, und die ländliche Bevölkerung sei aufgrund des höheren Alters darauf angewiesen. Aus ihrer Sicht könnte Chile damit auch ein Vorbild für andere Länder sein. „Was hier funktioniert, funktioniert auch in Europa.“