Der indische Filmemacher Arjun Talwar lebt seit 12 Jahren in Polen. Er nähert sich dem ihm immer noch mysteriösen Land, das ihn als Fremden betrachtet, indem er seine Straße in Warschau, die Wilcza, erkundet.
Eine Widersprüchlichkeit der Polen bestehe darin, dass sie einerseits stolz seien, mit fremden Kulturen in Kontakt zu sein. Andererseits hätten sie aber auch die ständige Angst, besetzt zu werden. So analysiert die Psychoanalytikerin Barbara Goettgens den Umgang ihrer polnischen Landsleute mit Ausländern.
Arjun Talwar, der aus Neu Delhi stammt und dem aufgrund seines Aussehens regelmäßig “Michael Jackson” hinterhergerufen wird, versucht alles, um sich den Polen anzupassen. Er hat die Sprache gelernt, die Kultur erforscht und sucht Kontakt zu seinen Mitmenschen. Eigentlich hatte Arjun Talwar Mathematiker werden wollen, sich dann aber von einem indischen Freund, Adi, überreden lassen, spontan nach Warschau zu ziehen. Die Inspiration dafür hatten den beiden alte polnische Filme gegeben.
Talwar hat dann in Polen an der renommierten Filmhochschule von Lodz studiert. Adi hat das Leben in Polen nicht ertragen – er hat sich umgebracht. Um seines Freundes zu gedenken und das Wesen der Polen weiter zu ergründen, beschließt Talwar, einen Film über seine Straße zu drehen. Sie heißt Wilcza, “die Wölfische”.
Doch Wölfe hätten hier früher nicht gewohnt, informiert der Briefträger des Viertels, Piotr, vor Talwars Kamera. Vielmehr habe das Land hier vor etlichen Jahrhunderten einem Mann namens Wilk (Wolf) gehört. Nun wohnen in der vom Zweiten Weltkrieg einigermaßen unversehrten Straße – eher selten in Warschau – die unterschiedlichsten Menschen.
Ausgehend von einer Nachbarin, die jeden Morgen ihr Bettzeug auf dem Balkon lüftet, hat der Regisseur für den Film “Briefe aus der Wilcza” sein Beobachtungsfeld nach und nach ausgeweitet. Zunächst fallen ihm die mit Drähten quer über die Straße gehängte Nachtbeleuchtung, dann Verbots- und Warnschilder auf. Polen beschwerten sich gerne, bestätigt der Hausmeister. Zudem wartet jeder Hinterhof in der Straße mit seinem eigenen Heiligenschrein auf.
In seinem Hof scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: Ruß auf den Fassaden und Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Leute hätten sich allerdings geändert, behauptet die Fleischerin. Früher habe es mehr Zusammenhalt gegeben. Die Kioskbesitzerin bestätigt dies.
So sammelt Anwar Daten über die Wilcza, vermisst sie sogar: Sie ist 15,5 Meter breit und etwa einen Kilometer lang. In ihr befinden sich unter anderem eine Polizeistation, ein Bestatter, ein Glockenturm, eine Tanzschule, zwei Gemüseläden, zwei Kirchen, vier “chinesische” Restaurants, – in Wirklichkeit sind es vietnamesische – und etliche Friseursalons.
Sobald der indische Filmemacher mit den Leuten ins Gespräch kommt, öffnen sie sich ihm. Talwar hat aber auch anderes erlebt: Einmal wurde er von Skinheads krankenhausreif geschlagen. Doch sein unerschütterlicher Glaube an das Gute im polnischen Volk hat ihn nie verlassen. Spricht der Regisseur mit seinen Gesprächspartnern vor der Kamera Polnisch, analysiert und philosophiert er im Off auf Englisch viel über die Polen, die menschliche Psyche und die Bedeutung von Heimat(-losigkeit).
Immer wieder schneit es in der Wilcza. Winterliche Bilder spiegeln auch den schwankenden Gemütszustand des Filmemachers wider, der zwischendurch den Mut verliert, weil sein Projekt nicht genügend Filmförderung findet. So erscheint der Film auch als Reflexion über die prekäre Situation von Künstlern.
Dennoch ist Talwars Film alles andere als düster. Regelmäßig setzt es absurde Szenen, die durch geschickte Schnitte potenziert werden. Einmal wagt sich der Filmemacher tatsächlich auf eine rechtsradikal-ultranationalistische Demonstration, die mit polnischen Flaggen, erzkatholischen Werten und nationalistischen Sprüchen die Unabhängigkeit Polens feiert. Talwar lässt seine engste Vertraute, die Chinesin Mo, ihr Mikro in die Menge halten. Auch hier begegnet ihm interessanterweise weniger Ablehnung, als man denken könnte. Einmal darf er sogar eine polnische Nationalflagge halten – auch das ist komisch, selbst wenn man dabei um seine Sicherheit bangt.
Ein weiterer Gesprächspartner ist Feras aus Syrien. Er schwankt zwischen Anpassung und Sehnsucht nach seiner alten Heimat Damaskus. Dennoch hat er eine Polin geheiratet, bringt seinem Kind seine Muttersprache Aramäisch bei und feiert im Laufe des Films seine Einbürgerung mit polnischem Pass. So hinterfragt der Filmemacher mit Herz und Verstand selbst aufgestellte Hypothesen, lässt Polen und Nichtpolen zu Wort kommen und deckt dabei die Vielfalt der in Warschau lebenden Ausländer, aber auch der Polen selbst auf. Trotz seiner Aufgeschlossenheit und seines Humors kommen dabei auch zum Teil erschreckende Vorurteile und Stereotype gegenüber Ausländern auf.