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Aufstehen und weitergehen

Wer erfährt, dass ihm verziehen wird, wer anderen und sich selbst vergeben kann, erlebt eine neue Freiheit. Vergebung fällt nicht leicht, aber die Mühe lohnt sich

Stefan D. hat einen Fehler gemacht. Einen großen Fehler: Er hat seine Frau betrogen. Das liegt Jahre zurück. Er und seine Frau haben sich ausgesprochen. Er hat bereut. Sie hat ihm verziehen. Und doch: Der Fehltritt belastet die Ehe noch immer. Denn Stefan D. kann sich selbst nicht verzeihen.

Ohne Vergebung wird das Leben schwierig. Wenn ich verletzt wurde und kann dem Anderen nicht vergeben, hat der Andere Macht über mich. Er bestimmt mein Denken und Fühlen. Schaffe ich es zu verzeihen, befreit mich das von der Macht des Anderen. Es geht nicht darum, zu verharmlosen, was geschehen ist oder den Schmerz zu leugnen. Vielmehr geht es um die eigene Handlungsfähigkeit.
Das betrifft Vergebung in beide Richtungen – sowohl meinen Mitmenschen gegenüber als auch mir selbst. Wer sich selbst nicht verzeihen kann, steht sich und einem befreiten, erfüllten Leben im Weg.

So ist das bei Stefan D. Seine Frau hat ihm verziehen. Nicht sofort. Das hat Zeit gebraucht. Sie war wütend. Traurig. Verletzt. Nach vielen Gesprächen, auch in der Paarberatung, konnte sie ihm vergeben. Sie wollte nicht, dass dieser eine Fehler, den er bereut, ihre Ehe zerstört. Für sie war wichtig: Vergebung heißt nicht, alles ist gleich wieder gut oder so zu tun als sei nichts geschehen. Sie traf die Entscheidung, dass sie ihm verzeihen will. Das war ein Prozess.

Und Stefan D.? Er fragt sich heute noch, wie es damals dazu kommen konnte. Er trägt noch immer an dieser Last. Er leidet darunter und beschreibt sein Lebensgefühl als „gedämpft“.

Vergebung ist nicht einfach. Sie braucht Zeit. Es ist wichtig, Verletzungen nicht zu übergehen. Gefühle wie Wut und Trauer müssen gelebt werden. Problematisch wird es dann, wenn ich dabei stehen bleibe. Wenn ich mich – bewusst oder unbewusst – dafür entscheide nicht zu vergeben. Dann gebe ich der Schuld oder der Verletzung die Macht, mein Leben zu beeinflussen oder gar im Griff zu haben.

Das darf man nicht falsch verstehen: Es gibt Verhalten und Taten, die schrecklich sind. Bei denen Vergebung sehr, sehr schwer fällt, manchmal fast unmöglich ist. Vergeben heißt auch nicht, dass ich anschließend mit dem Anderen wieder in tiefem Frieden lebe. Es kann gut sein, dass eine Beziehung zerbricht, trotz Verzeihung. Und doch – im Vaterunser beten wir: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“

Vergebung – ob mir selbst oder einem anderen gegenüber – führt zu Freiheit. Sie lässt mich mein Leben in die Hand nehmen und aktiv gestalten.

Sich selbst verzeihen heißt: Ich nehme ernst, was ich im Vaterunser bete. Ich nehme die Vergebung Gottes an. Auch das ist eine Entscheidung, die ich treffen muss. Gott vergibt uns, es liegt an uns, das anzunehmen. Wenn ich es nicht tue, ist das fast so, als würde Jesus bei der Heilung des Gelähmten (Markus 2,1-12; Johannes 5,1-9) sagen: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ – aber ich bleibe liegen. Sich selbst vergeben heißt: Aufstehen, weitergehen.