Es ist kalt, als uns Renate Köber in der Kirche von Neppendorf empfängt. Neppendorf liegt vor den Toren von Hermannstadt (rumänisch: Sibiu) in Siebenbürgen. Hier, in der ursprünglich romanischen Basilika feierten deutsche Siedler bereits im 13. Jahrhundert Gottesdienst.
„Ich selbst bin Landlerin. Meine Familie kam im 18. Jahrhundert als evangelische Deportierte aus dem österreichischen Salzkammergut“, sagt Renate Köber. Sie ist Gemeindesekretärin in der evangelischen Kirchengemeinde Neppendorf und zugleich der gute Geist der Gemeinde, zuständig für die Gemeindeverwaltung. Sie gibt uns den Kirchenschlüssel. Für fünf Tage sind wir mit einem Pastoralkolleg der westfälischen und rheinischen Kirche zu Besuch und wir feiern unsere Andachten im Kirchenschiff.
Siebenbürger Sachsen und Landler, das sind die beiden wichtigsten deutschen Minderheiten in Siebenbürgen. Um 1540 traten sie der Reformation bei und wurden lutherisch. Das ist bis heute gut spürbar. „Ein feste Burg ist unser Gott“ steht in vielen Kirchen. Wer das Gesangbuch aufschlägt, entdeckt viele vertraute Lieder von Luther, Paul Gerhardt und Christian Scriver.
Beim Besuch im Bischofspalais erzählt Rainhart Guib, Bischof der evangelisch-augsburgischen Kirche in Rumänien, vom großen Aderlass seiner Kirche und den verschiedenen Auswanderungswellen im letzten Jahrhundert. Heute sind es noch etwa 12 500 Gemeindeglieder, die im siebenbürgischen Teil Rumäniens leben.
Früher hatten die Deutschen Macht und Einfluss und das ist auch teilweise heute noch so. Das Ansehen der Siebenbürger Sachsen ist nach wie vor gut. Obwohl sie nur 0,2 Prozent der Einwohner in Hermannstadt stellen, sind die Hälfte der Mitglieder im Stadtrat Sachsen. Man setzt auf ihre Zuverlässigkeit und Unbestechlichkeit – in Hermannstadt und im ganzen Land. Der aktuelle Staatspräsident Klaus Johannis ist ehemaliger Bürgermeister von Hermannstadt und ebenfalls Siebenbürger Sachse.
„Wenn eine Familie ihre Wohnung verliert, dann kommen die Kinder oft zu uns ins Tageszentrum“, sagt Monika Brandsch, Leiterin des offenen Hauses für Straßenkinder, das ganz in der Nähe des großen Marktes in Herrmannstadt liegt. Das offene Haus bietet Kindern aus sozial schwachen Familien Hilfe bei den Schulaufgaben, ein warmes Mittagessen oder die Möglichkeit zum Waschen, Duschen und Kleiderwechseln. Es wird getragen von der evangelischen Stadtkirchengemeinde und ist Teil der Diakonie der Siebenbürger Sachsen.
2015 hatte Rumänien europaweit die höchste Zahl an Kindern, die zur Adoption freigegeben waren. 225 000 Kinder gingen abends hungrig ins Bett. Und 18 Prozent der Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren haben höchstens die 8. Klasse besucht. Diese Zahlen recherchierte Beatrice Ungar. Sie ist Chefredakteurin der „Hermannstädter Zeitung“ und im Arbeitskreis Straßenkinder in Rumänien aktiv.
Zusammen mit der Schriftstellerin Luminica Cioaba engagiert sie sich auch für die Roma-Minderheit in Siebenbürgen. Ist ein Kind arm in Rumänien, dann kommt es auch oft aus einer Romafamilie. Oft werden sie doppelt und dreifach diskriminiert, bestätigt Monika Brandsch. Es ist schwer, dem Teufelskreis der Armut zu entrinnen. Verliert man die Arbeit, hat man oft kein Geld mehr für die Miete. Verliert man die Wohnung, zerbricht das Familiensystem. Alleinerziehende Mütter können häufig ihre Kinder nicht ausreichend versorgen, denn sie müssen sie während sie arbeiten alleine lassen.
Betteln ist in Rumänien gesetzlich verboten. Da sind die diakonischen Einrichtungen oft die letzte Möglichkeit, um der Armut zu entrinnen. Auch in der Bischofskantine in der Hermannstädter Innenstadt gibt es ein preiswertes Mittagessen für all die Menschen, deren Lohn, Rente oder Sozialeinkommen nicht ausreicht. Hier kostet eine Mahlzeit zwölf Lei (rund vier Euro). Grob gesagt sind die heutigen Armen in Rumänien entweder Kinder, Alte oder Roma.
Einige große Städte Rumäniens profitieren von der EU-Mitgliedschaft seit 2007. Hier siedeln sich neue Firmen an und die großen, westdeutschen Lebensmitteldiscounter Lidl, Aldi und Kaufland eröffnen ihre Filialen an den Stadträndern. Davon profitieren auch die Rumänen. Aber gerade auf dem Land und in den vielen kleinen Dörfern ist die Armut nach wie vor groß.
„Unser Sozialsystem ist schwach. Die Abgaben für Renten- und Krankenversicherung kommen in einen großen Topf. Zuerst werden die hohen Renten an Staatsbedienste und Abgeordnete ausbezahlt, dann die niedrigen Renten. Da fehlt dann Geld für die ambulante und stationäre Krankenversorgung“, sagt Petra Stöckmann-Kothen, Mitarbeiterin im Dr. Carl-Wolff-Altenheim. „Wir haben die ,Winterhilfe‘ gegründet. Damit können wir den armen Rentnerinnen in den umliegenden Dörfern von November bis März einen monatlichen Zuschuss für die Heizkosten geben, so dass die Alten in ihren Häusern nicht frieren müssen.“
Eigentlich sollte es dem neuen EU-Mitglied Rumänien besser gehen, doch der Aufbau eines gut finanzierten Sozialsystems ist mühsam, abhängig von Wirtschaftswachstum und den Steuereinnahmen. Und auch die weit verbreitete Lethargie unter den Menschen ist mit viel Geduld zu überwinden. Das ist noch ein langer Weg.
Beate Heßler ist MÖWe-Regionalpfarrerin in den Kirchenkreisen Münster, Tecklenburg, Steinfurt-Coesfeld-Borken, Unna und Hamm. Thomas Krieger ist Europareferent im Amt für MÖWe in Dortmund.