Vom Vater vergewaltigt, ins Heim abgeschoben und dort vom Heimleiter ebenfalls missbraucht: Das erzählt ein ehemaliges Heimkind. Bei einer öffentlichen Befragung fordern Fachleute mehr Unterstützung für Betroffene.
Die Vorsitzende der unabhängigen Aufarbeitungskommission, Julia Gebrande, kritisiert, dass die Politik sexualisierte Gewalt gegen Heimkinder bislang nicht ausreichend in den Blick genommen hat. Es habe in Heimen in der Bundesrepublik und in der DDR “massive Menschenrechtsverletzungen” gegeben, erklärte Gebrande am Dienstag bei einer Veranstaltung zu dem Thema in Berlin.
Das gesamte Heimsystem in beiden deutschen Staaten hatte nach Angaben der Kommissionsvorsitzenden Strukturen geschaffen, die sexuelle Gewalt ermöglicht und zugleich eine Schweigepraxis geschaffen hat. Gebrande äußerte sich bei einer öffentlichen Befragung zum Thema “Sexueller Kindesmissbrauch und Heimerziehung”.
Mehr als 800.000 Kinder und Jugendliche sollen zwischen 1945 und den 1970er Jahren – in der DDR bis 1990 – in staatlichen und kirchlichen Heimen untergebracht gewesen sein, etwa 500.000 davon in konfessionellen Einrichtungen. Und das unter teils drastischen Bedingungen: mit schweren Strafen, mangelhafter Betreuung, Zwang zur Arbeit und sexualisierter Gewalt.
2012 hatten Bund, Länder und Kirchen zwei Fonds für Betroffene ins Leben gerufen, die 2018 geschlossen wurden. Mehr als 40.000 Betroffene erhielten insgesamt 485 Millionen Euro. 2017 wurde die Stiftung “Anerkennung und Hilfe” errichtet, an die sich ehemalige Heimkinder bis Ende 2022 wenden konnten, um eine Entschädigungspauschale in Höhe von 9.000 Euro und gegebenenfalls Rentenersatzzahlungen von bis zu 5.000 Euro zu beantragen.
Der Sozialpsychologe Heiner Keupp erklärte, Betroffene bräuchten weiterhin Hilfe. Die Fonds müssten fortgesetzt werden. Bislang seien Betroffene zu wenig über die Hilfsmöglichkeiten informiert worden. “Wir wollen die Schweigemauern überwinden”, so Keupp. Die Auswirkungen der Misshandlungen begleiteten Betroffene ein Leben lang. Kirchen, Staat und Zivilgesellschaft müssten das Unrecht umfassend anerkennen.
In den vergangenen zehn Jahren haben sich 149 Betroffene an die unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gewandt. Die Betroffenen berichteten, wie sie in Heimen, Jugendwerkhöfen oder anderen Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe sexualisierte Gewalt erfahren haben. Auch bei der öffentlichen Befragung schilderten einige ihre Geschichte. Demnach wurden viele Betroffene im Rahmen der Aufarbeitung sowie schleppender und nicht erfolgter Zahlungen aus den Fonds retraumatisiert. Auch seien Heimkinder in der DDR zunächst nicht in den Blick genommen worden.