Man muss heute nicht mehr nur auf die Sprache der Reisebranche zurückgreifen, um den Urlaub als Paradies zu begreifen. Niemand nimmt Anstoß daran, dass damit unerfüllbare Ansprüche verbunden sind. Denn wenn das Paradies wirklich das vorherrschende Reiseziel wäre, dann würde kein Urlauber sein Ziel je erreichen. Andererseits ist Urlaub wie ein Spiel, in dem alle eine glückliche Rolle spielen wollen. Man muss nicht wirklich im Paradies sein, um sich glücklich „wie im Paradies“ fühlen zu können. Im Zeitalter virtueller Realitäten ist die Unterscheidung von Original und Kopie ohnehin fragwürdig. Es reicht die Inszenierung von Echtheit, die Kontrastkulisse „Sonne / Palmen / Strand“ oder der „stille Bergsee“ als gelungene Ablenkung vom Alltag.
Urlaub ist die Idee von einem anderen Dasein – in einem handfesten physischen Sinn als Ort der Erfüllung persönlicher Interessen und in einer metaphysischen Bedeutung: Hier können Heilsversprechen den Himmel auf Erden wahr werden lassen. Die diesseitigen Vorstellungen konzentrieren sich auf die Sehnsucht nach einer heilen Welt, im natürlichen Einklang von Mensch, Tier- und Pflanzenwelt. Die jenseitigen Vorstellungen aber speisen sich aus dem im wirklichen Leben Unerfüllbaren: aus dem Wunsch, die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig zu machen.
Niemand weiß, wie es dort aussieht. Daher bleiben Urlaubsutopien notwendigerweise unbeschreiblich, unbestimmt und unfassbar. Da die Menschen das Paradies ja erleben wollen, suchen sie im Urlaub notgedrungen den Himmel auf Erden.
Urlaub: den Himmel auf Erden erleben
Mit dem Struktur- und Wertewandel in der Arbeitswelt hat sich auch der Zusammenhang von Alltag und Urlaub in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert: Urlaub hatte in den 50er und 60er Jahren eine klare Funktion: Urlaub war Anhängsel des Arbeitslebens – als Erholung von der Arbeit. Seit den 70er Jahren erscheint Urlaub zunehmend als das Eigentliche am und im Leben. Urlaub ist für viele zum Höhepunkt des Lebens geworden. Je mehr der Urlaub heute den Menschen als das Wahre, Wesentliche und Wichtige am Leben erscheint, desto mehr ist dieser Wandel zuallererst als Symptom einer Sinnkrise zu begreifen und erst in zweiter Linie als Glückserfüllung. Urlaub als Anti-Alltag, der Gedanke an die „schönsten Wochen des Jahres“, macht den Alltag nicht leichter, lässt ihn eher schwerer erscheinen. Urlaub wird zum Inbegriff des Freien, Leichten und Schönen. Zu dieser Lebensphilosophie gehört die Abwertung des Alltags, damit der Urlaub umso heller erstrahlen kann.
Was auf den ersten Blick wie eine soziale Errungenschaft erscheint, ist in Wirklichkeit ungleich verteilt. Der Urlaubsmarkt entwickelt sich immer mehr zum Spiegelbild des Arbeitsmarkts. Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft von Mobilen und Immobilen zeichnet sich ab. Die meisten Nichterwerbstätigen müssen im Urlaub zu Hause bleiben. Darunter sind Rentner und Arbeitslose am stärksten vertreten. Job und Einkommen haben Einfluss darauf, wer im Urlaub auf eine Reise verzichten muss. Erwerbstätige und Besserverdienende können sich reiselustig geben, während andere zu Hause bleiben.
Urlaub kann eines nicht ertragen: Langeweile
Die Angst geht um in der Touristikbranche: Auf dem Weg in die Zukunft könnten den Urlaubsmachern die Ideen ausgehen. Die Reisenden hätten fast alles schon erlebt, und im 21. Jahrhundert gebe es keine touristischen Abenteuer mehr. Es sei nicht mehr möglich, nach neuen Ufern aufzubrechen, Reisen sei alltäglich und der Tourismus eine Banalität geworden. Doch was passiert, wenn wir fast schon alles gesehen haben, wenn es keine echten Erlebnisse, keine natürlichen Lebensgefahren und keinen Kampf um das physische Überleben mehr gibt? Wird dann die Devise „Bleib zu Haus“ als moderne Urlaubsweisheit ausgegeben, weil die Reiseziele in einer Wüste der Langeweile unterzugehen drohen?
Der Tourismus, der größte Arbeitgeber der Welt, kann im 21. Jahrhundert fast alles ertragen – Kriege, Krisen und Konflikte – nur eines nicht: Langeweile. Die „Weiße Industrie“ muss sich erneuern oder neu erfinden, sonst steht sie sich selbst im Wege. Deshalb wird der Weltraumtourismus keine Utopie mehr bleiben. Es geht dann um die Eroberung eines neuen riesigen Wirtschaftsmarktes, der es den Reisenden von morgen erlaubt, schwerelos und vielleicht auch gewissenlos an die Himmelspforte zu klopfen und lautstark zu fordern: „Macht das Tor auf – ich habe es bezahlt. Und: Ich habe es mir verdient!“ Dieser Griff nach den Sternen wird wohl der letzte Sehnsuchtsschrei des Menschen nach dem verlorenen Paradies sein.
Horst Opaschowski ist Professor am Institut für Zukunftsforschung, Hamburg.