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„Auch ich bin ein Ruhe-Sucher“

Auf Knopfdruck abschalten –das gelingt meistens nicht. Doch innezuhalten ist wichtig, meint Philosoph Ralf Konersmann. Es bedeutet weder Faulheit noch Stillstand. Religion kann helfen aus der Unruhe und Umtriebigkeit heraus zu kommen

contrastwerkstatt - Fotolia

Wer rastet, der rostet. Ruhe ist Stillstand und Langeweile. Die westliche Kultur ist fixiert auf Unruhe und Bewegung. Warum das so ist, hat der Philosoph Ralf Konersmann in seinem Buch „Die Unruhe der Welt“ untersucht. Im Interview mit Christoph Arens er bis ins Alte Testament zurück, um Ursachen für das gehetzte Abendland zu beschreiben.

Sie haben ein philosophisches Buch über die „Unruhe der Welt“ geschrieben. Es ist Urlaubszeit. Wie gönnen Sie sich Ruhe?
Auch ich bin ein Ruhe-Sucher. Aber es gibt ja ganz verschiedene Formen der Ruhe. Wenn man sich für den Urlaub ganz fest vornimmt, Ruhe zu finden, klappt das meist nicht. Ruhe auf Knopfdruck – das macht eher Urlaubsstress, das lässt sich nicht erzwingen. Ruhe ist etwas anderes als Pause machen. Damit sich Ruhe einstellt, muss man Glück haben. Aber es gibt ja auch noch andere Wege: etwa ein Buch zu schreiben. Wer schreibt, ordnet seine Gedanken, verlangsamt, nimmt sich aus der Welt heraus.

Sie haben dieses Buch aber nicht zur Selbsttherapie geschrieben. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Ich habe mich gefragt, wie es kommt, dass das Ideal der Ruhe, das in der Antike und auch im frühen Christentum noch galt, verloren gehen konnte. Wir leben in einer Kultur der Unruhe. Wir wollen Wirtschaftswachstum, Fitness, Zerstreuung. Ruhe gilt uns als Stillstand, Faulheit, Unflexibilität und Langeweile. Wie kam es zu diesem Wandel und wer hat das entschieden?

Sie verweisen auf den Mythos von Kain und Abel im Alten Testament. Das Nachdenken über Ruhe und Unruhe ist also schon sehr alt…
Menschen zu allen Zeiten haben sich damit auseinandersetzen müssen. Im Alten Testament steht das Paradies für Ruhe, und aus dieser Ruhe werden die Menschen vertrieben. Gott belegt Kain nach dem Brudermord mit einem Fluch: „Ruhelos und rastlos sollst Du sein.“ Daraus haben die Menschen jahrhundertelang abgeleitet, dass die Unruhe eine Strafe Gottes ist. Die Sehnsucht richtete sich danach, ins Paradies zurückzukommen.

Schon Adam und Eva war es ja augenscheinlich zu langweilig im Paradies, sonst hätten sie nicht vom verbotenen Baum der Erkenntnis gegessen?
Das ist dann schon eine modernere Interpretation. Spätestens im 18. Jahrhundert ist unsere westliche Kultur dazu übergegangen, die Unruhe nicht mehr als Strafe und Fluch, sondern als Chance auf Veränderung und Verbesserung des Lebens zu deuten und anzunehmen. Das Paradies wurde als öde und langweilig interpretiert. Hegel meinte, wenn das Paradies nötig gewesen wäre, wäre es nicht verloren gegangen.

Hegel und Marx haben die Geschichte ja selbst als dynamische Abfolge verschiedener Gesellschaftsordnungen interpretiert…
Sie gehen einen Schritt weiter. Die Welt selber ist unruhig, nicht nur der Mensch. Unruhe ist der Motor der Welt, und der Mensch soll sich sozusagen auf den Tiger setzen und ihn reiten.

Bei Hegel und Marx hat diese Bewegung aber ein Ziel, eine bestimmte Gesellschaftsordnung. Trügt der Eindruck, dass in der heutigen Zeit Unruhe ziellos ist?
Das sehe ich auch so. Noch in den 60er und 70er Jahren hatte die Unruhe ein Ziel. Es gab eine Debatte über Utopien. Mittlerweile sind Unruhe und Bewegung in den westlichen Industriegesellschaften ein Selbstzweck, unsere größte Sorge ist der Stillstand.

Wir reden von Stress und Burnout. Ist die Unruhe schlimmer geworden?
Das glaube ich nicht. Gestiegen ist nur unsere Bereitschaft, Blockaden abzubauen. Wir tun alles, um den Strom der Unruhe ungestört fließen zu lassen.

Welche Blockaden?
Religion ist so eine Blockade. Traditionen, Recht, Rituale, Klassizität, Institutionen sind Versuche, die Unruhe zu kanalisieren, den Fluss zu verlangsamen und Orte der Besinnung und des Innehaltens anzubieten.

Wir machen Yoga, reden von Entschleunigung, bekämpfen den Burnout. Ist das überhaupt sinnvoll, wenn die Unruhe doch zur genetischen Ausstattung unserer Kultur gehört?
Aus individueller Sicht kann das sinnvoll und gesund sein. Aber damit können wir natürlich die Kultur nicht verändern. Im Gegenteil: Solcher Aktionismus entspricht ja genau der Logik der Unruhe. Wir machen uns fit, um dann wieder kräftig im Strom der Unruhe mithalten zu können.

Gibt es in dieser Logik denn überhaupt eine theoretische Möglichkeit, zu einer anderen Gesellschaft zu kommen?
Aus der Unruhe herauszutreten, verlangt schon einiges an Raffinesse. Aber es ist schon sinnvoll – und das will ich ja auch mit meinem Buch erreichen, darüber nachzudenken, wie sehr wir in einer Kultur der Unruhe leben und wie sie entstanden ist. Man kann auch darüber nach-denken, ob nicht einige dieser Blockaden, die wir in den vergangenen Jahrzehnten abgeschafft haben, durchaus hilfreich sind. Vielleicht brauchen wir auch gesellschaftliche Reservate der Ruhe.

Sie haben insbesondere unsere westliche Industriegesellschaft analysiert. Gibt es denn Alternativen in anderen Kulturen?
Ich weiß zu wenig von anderen Kulturen, um das beantworten zu können. Aber die These liegt nahe, dass es besonders die westlichen Industriegesellschaften sind, in denen diese Enthemmung zuerst stattgefunden hat.
Es wäre deshalb sehr wichtig, wenn wir uns mit anderen Religionen und Kulturen darüber austauschen könnten. Unser Hang zu Unruhe und Veränderung führt zu vielen Missverständnissen mit anderen Völkern. Die verstehen zum Teil gar nicht, warum wir so hektisch und strebsam sind – und wir verstehen es ja selbst nicht.

Buchhinweis: Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer Verlag, 464 Seiten, 24,99 Euro.