Goethe lag goldrichtig. Die „Stadt Neuyork“ werde „besonders seit der Eröffnung des Erikanals überschwänglich reich“ prophezeite der Dichter. Genauso kam es. Die Wasserstraße machte New York zum wichtigsten Handelsplatz der Neuen Welt. Am 26. Oktober wird der Eriekanal 200 Jahre alt.
Das Meisterwerk der Ingenieurskunst war die Aorta der jungen USA. Der Kanal verbindet auf mehr als 500 Kilometern Buffalo bei den Niagarafällen mit dem Hudson, der in den Atlantik mündet. Er erlaubte Einwanderern die bequeme Passage in das unermesslich weite Hinterland von New York. „Hauptimpetus für den Bau waren Wirtschaftsentwicklung und Immigrantenwelle, ohne den Kanal wäre der Westen viel langsamer besiedelt worden“, sagt Michael Vogel, Leuchtturmwärter von Buffalo und früherer Direktor im Vorstand der Erie Canal Harbor Development Corporation, die sich um die Entwicklung der Hafenbereiche kümmert.
Zur Geburtstagsparty des Kanals lädt das Pier 26 am Hudson in Manhattan. Dafür machte sich die Crew des „Buffalo Maritime Center“ – Museum und praxisnaher Ort, an dem traditionelle Holzboote gebaut und restauriert werden – bereits im September auf den Weg: Sie startete mit der „Seneca Chief“, einem Nachbau des ersten Bootes, das den neuen Verkehrsweg von Buffalo nach Albany im Jahr 1825 auf voller Länge durchfuhr.
Der Eriekanal war „Fundament des Nation Building“, sagt Michael Vogel. Auch viele Dichter fesselte das Mammutprojekt: neben Goethe etwa Charles Dickens, Harriet Beecher Stowe, Hermann Melville oder Mark Twain, der sich in Kanalnähe niederließ.
Was nur wenige sahen oder sehen wollten: Der Kanal trug erheblich zur Dezimierung der Native Americans bei, deren Land ihnen beim Bau entrissen wurde. Die Angehörigen der Haudenosaunee und Mohikaner lebten seit Jahrhunderten in der Region, nun brachte der Kanal viele landhungrige Siedler in ihr Gebiet. „Als der Kanal eröffnete, war das wie der letzte Schritt, um uns zu entfernen“, sagte Melissa Porter von der Haudenosaunee-Organisation „7th Gen Cultural Resources“ der „New York Times“. Viele wurden in „Reservate“ gezwungen. Heute legt das Eriekanal-Museum in Buffalo großen Wert auf die ganze Geschichte und vermittelt US-Kindern den Kodex der Natives: immer die nächsten sieben Generationen mitdenken.
Acht Jahre dauerte der Kanalbau, die Sklaverei schafft der Bundesstaat New York zwei Jahre nach Fertigstellung ab. Sie war dort aber laut Vogel kaum verbreitet: „Nach meiner Kenntnis entstand der Kanal ohne Sklavenarbeit.“ Iren und deutsche Steinmetze bauten mit. Frauen kämpften unterdessen am Eriekanal für Gleichberechtigung. Seneca Falls ist 1848 die Wiege der Frauenrechtsbewegung.
1855 erlebte der Kanal seine Blütezeit. Er eröffnete das Reisezeitalter. Statt zwei Wochen wie zur Pferdekutschenzeit brauchten Schiffsreisende von Albany bis Buffalo nurmehr sechs Tage.
Heute ist der Kanal eine Oase der Entschleunigung. Erholungssuchende strömen an die Ufer, wo immer sie zugänglich sind. An etlichen Stellen kann Wassersport betrieben werden.
An einem Sommersonntagnachmittag in Pittsford ist die Stimmung beschaulich. Der Kanal glitzert in der Sonne. Radler und Familien mit Kinderwagen teilen sich den asphaltierten Uferweg, wo üppiger Blumenschmuck Laternen schmückt. Menschenfamilien bestaunen Entenfamilien. Im Ausflugslokal spielt eine Live-Band vor der Kanalkulisse Folk. Niemand verspürt Eile am Wasserhighway.
Reichlich Zeit – ganze 33 Tage – lässt sich auch die „Seneca Chief“ für den Jubiläumstrip mit 28 Hafenanläufen in Erinnerung an die Inaugurationsfahrt des New Yorker Gouverneurs DeWitt Clinton. Begleitet von Kanonensalut landete er am 4. November 1825 in der New York Bay mit einem Fässchen. Das enthielt Wasser vom Eriesee. Feierlich entleerte Clinton es in den Atlantik, umringt von Segelbooten und Dampfschiffen. Als „Wedding of the Waters“ (Hochzeit der Gewässer) schrieb die Zeremonie Geschichte.
Von nun an wurden große Mengen Getreide, Mehl, Möbel und Scharen hoffnungsfroher Europäer über Amerikas berühmteste künstliche Wasserstraße transportiert. Dabei sind Dutzende Schleusen zu passieren: Sie verläuft durch die Appalachen; insgesamt sind 172 Höhenmeter zu überwinden. In Syracuse ist das einzige Gebäude mit Wiegeschleuse erhalten, Baujahr 1850. Es beherbergt heute das Erie Canal Museum.
Mehrfach wurde der Kanal im Laufe der Geschichte vertieft, verbreitert, verändert. Der Originalkanal ist heute kaum mehr zur Hälfte erhalten. Zahllose kleine und große Museen beschwören seine Blüte. Und viele Städte entlang des Kanals tragen maritime oder europäische Namen: Francfort liegt am Eriekanal gleich bei Amsterdam.