Gerhard Tersteegen ist den meisten Evangelischen heute nur noch als Liederdichter bekannt. Tatsächlich ist er einer der wichtigsten Repräsentanten der Mystik auf dem Boden der reformatorischen Kirchen. Seine mystische Prägung ließ ihn zu einer ganz eigenen Gestalt der evangelischen Christenheit werden.
Das Leben Tersteegens lässt sich in zwei unterschiedliche Abschnitte einteilen: Im ersten lebte er zurückgezogen, im zweiten wirkte er öffentlich. Tersteegen wurde am 26. November 1697 in Moers am Niederrhein geboren. Er besuchte zunächst die Lateinschule, wo er sich die Grundlage für seine spätere, selbstständig erworbene theologische Bildung schuf.
Gott finden im einsamen Bibelstudium
Nach der Kaufmannslehre eröffnete Tersteegen einen Laden, doch empfand er diese unruhige Tätigkeit als mit seinem Christsein nicht vereinbar. Darum gab der 22-Jährige den Laden auf und erlernte in der Folge das Seidenbandweben. Diese Tätigkeit eröffnete ihm den Weg in Zurückgezogenheit und Einsamkeit. Fortan lebte er sehr einfach und teilte sein Geld mit Bedürftigen. Vor allem nutzte er die Einsamkeit zum Studium der Bibel und geistlicher Schriften. Während dieser Zeit wurde Tersteegen von starken Glaubenszweifeln geplagt.
Den entscheidenden Wendepunkt seiner geistlichen Biografie stellte ein mystisches Bekehrungserlebnis am Gründonnerstag 1724 dar. Indem er nach Jahren voller Zweifel die Verschreibung an Jesus Christus mit seinem eigenen Blut vollzog, brachte er die Unverbrüchlichkeit seines Entschlusses, Jesus nachzufolgen, zum Ausdruck. Damit begann die zweite Phase von Tersteegens Leben, seine öffentliche Wirksamkeit, die in den folgenden Jahren immer mehr zunahm – allerdings nicht ohne große Widerstände vonseiten der damaligen Amtskirche. Tersteegen führte eine weite seelsorgerliche Korrespondenz, veröffentlichte Gedichte und theologische Bücher und hielt viele Vorträge vor Erweckten. Zudem war er Leiter der pietistischen Versammlung von Mülheim an der Ruhr. Hunderte von Menschen fanden sich zu seinen Predigten ein, die er im eigenen Haus hielt.
Im Zentrum der Mystik Tersteegens steht Jesus Christus. Es geht ihm um die „innige und ewige Vereinigung und Gemeinschaft in Christo Jesu“. Oder, wie er im „Kurzen Bericht von der Mystik“ schreibt: „Die Mystiker reden wenig, sie tun und sie leiden vieles, sie verleugnen alles, sie beten ohne Unterlass, der vertraute Umgang mit Gott in Christo ist ihr ganzes Geheimnis.“
Inhaltlich am prägnantesten und sprachlich am schönsten hat Tersteegen die mystische Vereinigung mit Jesus im Lied „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165) zum Ausdruck gebracht: „Ich in dir, / du in mir, / lass mich ganz verschwinden, / dich nur sehn und finden“, und: „Herr, komm in mir wohnen, / lass mein’ Geist auf Erden / dir ein Heiligtum noch werden; / komm, du nahes Wesen, / dich in mir verkläre, / dass ich dich stets lieb und ehre.“
Zentrum der mystisch geprägten Christusbeziehung Tersteegens ist „die durch Christus geschehene Versöhnung“, aber nicht so, dass man nur von ihr redet, sondern das ganze Leben darauf baut. Es geht dem Mystiker wie schon Paulus in 1 Korinther 3, 12ff. darum, im Glauben den Bereich der Stoppeln hinter sich zu lassen und in den Bereich des Goldes, der Perlen und der Edelsteine zu gelangen, also bereits in dieser Welt die Wirklichkeit Gottes und des Himmels zu erfahren.
Neben der Bibel sind Einsamkeit und Stille für Tersteegen unabdingbare Voraussetzungen, um zur Vereinigung mit Gott zu gelangen. Gotteserfahrungen lassen sich nicht im Schnellverfahren machen, sondern sind mit Übung verbunden! Das kontemplative Gebet ist das wichtigste Mittel auf dem Weg zur Vereinigung mit Gott.
„Dass wir einfältig und andächtig glauben, dass Gott überall, auch in unsern Herzen gegenwärtig sei. Dass Er deswegen bei uns und in uns gegenwärtig sei, damit wir ihn daselbst anbeten, lieben und dienen sollen, gleichwie Er sich uns daselbst gerne mitteilen und seine Lust in uns haben will“, notiert er in seinen Lebensbeschreibungen. Weil die Nähe Gottes in Jesus Christus eine unaussprechliche ist, kann sie nur im Schweigen erfahren werden.
Tersteegen beruft sich dafür auf das Vorbild des irdischen Jesus: „Unser Jesus hat 30 Jahre geschwiegen und sich verborgen, damit er uns die Liebe zum Leben der wahren Abgeschiedenheit einflößen möchte, und im offenbaren Leben hat er kaum vier Jahre zugebracht.“
Evangelischer Glaube ist mystiktauglich
Die Vereinigung mit Gott ist nur auf dem Weg der geduldigen, bisweilen jahrzehntelangen Übung der Kontemplation zu erreichen. Diese umfasst zugleich Sammlung, Gebet und Verzicht auf alles, was am Leben in der Gemeinschaft mit Gott hindert. Besonders eindrucksvoll bringt Tersteegen die Grundhaltung des kontemplativen Gebets wiederum in „Gott ist gegenwärtig« zum Ausdruck: „Wie die zarten Blumen / willig sich entfalten / und der Sonne stille halten, / lass mich so / still und froh / deine Strahlen fassen / und dich wirken lassen.“ Die Seele, die sich Gott ganz überlässt, erhält einen Vorgeschmack der Ewigkeit, indem sie ganz in der Gegenwart ist.
Tersteegen zeigt: Evangelischer Glaube ist mystiktauglich! Die Verbindung erfolgt auf der einen Seite durch Intensivierung und Ausweitung des traditionellen evangelischen Glaubensverständnisses. Die Frage nach Gott, verstanden als Frage nach der Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott in Jesus Christus, überstrahlt alle anderen theologischen Probleme. Die Ewigkeit wird als gefüllte Zeit im Hier und Heute für den Mystiker erfahrbar.
Auf der anderen Seite kommt es zu einer Neuinterpretation bestimmter Aspekte der Mystik. Die reformatorische Lehre vom Menschen lässt Tersteegen die Rede von der Gottesgeburt in der Seele vermeiden. Die Unio mystica wird als Beziehungserfahrung und nicht als Auflösung der Persönlichkeit interpretiert.