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“An Hour From The Middle Of Nowhere” – Porträt eines Kämpferischen

“An Hour From The Middle Of Nowhere” ist eine Doku über den US-amerikanischen Anwalt Marty Rosenbluth, der in Georgia Menschen juristisch beisteht, die im Gefängnis auf eine Klärung ihres Aufenthaltsstatus warten.

Seine Philosophie erklärt der Asyl- und Migrationsanwalt Marty Rosenbluth gerne mit einer bildhaften Geschichte. Ein kleines Mädchen steht an einem Strand, an den unzählige Seesterne an Land gespült wurden, und wirft einen nach dem anderen wieder zurück ins Meer. Auf die Frage eines alten Mannes, warum sie sich die Mühe mache, wo die Rettung aller doch vergeblich sei, antwortet sie: “Nun, bei dem einen hat es etwas bewirkt.”

Die USA haben das größte Abschiebegefängnissystem; 2022 wurden täglich etwa 22.630 Menschen “deportiert”. Die Migrationsbehörde ICA (United States Immigration and Customs Enforcement), die 2003 nach den Terroranschlägen vom 11. September aus einer Vorgängerinstitution heraus neu gegründet wurde, fungiert dabei als entscheidende Instanz – mit weitreichenden Rechten. Sie ermittelt Grenzverletzungen, ordnet Inhaftierungen an und entscheidet über Bleiberechte und Abschiebungen. Die Haftanstalten liegen oftmals in isolierten, ländlichen Gegenden, in denen sich kein Anwalt und keine Anwältin finden, die die Betroffenen gerichtlich vertreten.

So liegt das Stewart Detention Center in dem verschlafenen Ort Lumpkin in Georgia. Laut einer Studie hatten weniger als sechs Prozent der Inhaftierten in Lumpkin zwischen 2007 und 2012 einen Rechtsbeistand. Auch in den folgenden Jahren hat sich an dieser Zahl offenbar wenig geändert. Um dem etwas entgegenzusetzen, beschloss Rosenbluth, nach Lumpkin zu ziehen. Gemeinsam mit seiner Assistentin Alondra kämpft er seit 2017 für die Rechte von Menschen in Migrationshaft. Ole Elfenkaemper und Kathrin Seward dokumentieren ihn und seine Arbeit.

Der Skype-Klingelton ist in Rosenbluths Arbeitsalltag allgegenwärtig. Die Menschen, die ihm auf dem Bildschirm seines Laptops in orangefarbener Gefängniskleidung gegenübersitzen, sind meist in einer verzweifelten Verfassung. Die Zustände in den Anstalten sind oft fürchterlich; nicht selten kommt es unter Migrantinnen und Migranten zu Suiziden. Rosenbluth, ein drahtiger Mann mit grauem Bart und Brille, klärt über die nächsten Schritte auf und versucht aufzumuntern, ohne allzu viel Hoffnung zu machen: Die Urteile der Behörde seien oft willkürlich und schwer vorherzusehen.

In beobachtenden Szenen begleitet “An Hour from the Middle of Nowhere” mehrere Fälle. Rechtsbrüche – wie etwa die Befragung eines Mandanten in Anwesenheit andere Gefangener – sind an der Tagesordnung. Auch eine mangelhafte Rechtsberatung durch kostspielige Anwälte in der Ferne ist keine Seltenheit. Im Zentrum des Films steht die Familie des Mexikaners Raul, der aufgrund eines defekten Scheinwerferlichts an seinem Wagen in eine Polizeikontrolle geriet und seitdem im Stewart Detention Center auf sein Urteil wartet. Seine Frau versucht, sich und die beiden in den USA geborenen Kinder mühsam über Wasser zu halten. Die Warterei ist quälend und hinterlässt bei allen Beteiligten psychische Schäden.

Über die rechtlichen Hintergründe und das System der Migrationsbehörde erfährt man in “An Hour from the Middle of Nowhere” eher wenig. Der Film ist ganz auf das Porträt eines kämpferischen Mannes fokussiert, der praktisch im Alleingang versucht, die Verhältnisse zu ändern. Seine Biografie erzählt der Film über Radiointerviews. Rosenbluth war 47 Jahre, als er die juristische Fakultät der University of North Carolina besuchte. Nach dem College arbeitete er ehrenamtlich für Amnesty International und ging dann nach Israel, wo er jahrelang palästinensische Menschen im Westjordanland vertrat.

Elfenkaemper und Seward folgen ihm auch nach Hause, wo er in Cargo-Shorts und weißem Tanktop vor seiner Küchenmaschine steht und Pizzateig knetet – eine haptische Tätigkeit, die, anders als in seiner Arbeit, auch gleich ein sichtbares Ergebnis hervorbringt. Ans Aufgeben denkt er nicht: “That’s who I am.” Man müsse ihn schon in der Schubkarre oder dem Rollstuhl aus dem Gerichtssaal schieben.