Eine Frau, deren Vater gestorben ist, erlebt plötzlich, dass Bekannte die Straßenseite wechseln, wenn sie ihr entgegenkommen. Ein Mann, dessen Frau an Krebs gestorben ist, wundert sich, warum die Menschen in den Beileidskarten alle Rilke-Gedichte abschreiben, anstatt eigene Worte zu finden. Eine Frau, deren krankes Baby nur wenige Tage lebte, fällt die Stille auf, die nach der ersten Woge von Mitgefühl herrscht. Keiner kommt mehr vorbei oder ruft an.
Es gibt zahlreiche Verluste im Leben, die wir verkraften müssen, etwa den Verlust einer Ehe, der Heimat, der Gesundheit, der Jugend. Am schlimmsten trifft uns aber der Verlust eines nahestehenden Menschen.
Keine Furcht vor der Trauer des Anderen
Im Laufe eines Trauerprozesses können ganz verschiedene Gefühle auftauchen und sich abwechseln. Sie reichen von Wut über Sehnsucht, Hilflosigkeit, Angst vor der Zukunft, Neid auf die, die glücklich weiterleben, vielleicht Schuld, und sie gehen bis Mut, Dankbarkeit und zur Freude darüber, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Das ist für andere nicht immer gut auszuhalten, irritiert vielleicht oder ist anstrengend. Trauern macht einsam.
Wenn wir uns bei Menschen, die trauern, nicht melden mögen und ihnen ausweichen, dann haben wir dafür meist gute Gründe: Keine Zeit, wir wollen uns keinem aufdrängen, sind zu geschafft vom eigenen Alltag. Vielleicht steckt dahinter Scheu oder Angst vor der eigenen Unbeholfenheit, vielleicht auch der Impuls, uns zu schützen. Denn wirklich bei einem Trauernden zu sein, seinen Schmerz an sich herankommen zu lassen, das würde bedeuten zu erkennen, dass auch uns jederzeit ein Verlust passieren kann. Dass alles, was sicher erscheint, nicht sicher ist.
Einen Trauernden auszuhalten bedeutet zu akzeptieren, dass wir nackt und verletzlich im Leben dastehen. Und wer kann das schon? So ist es manchmal sogar so, dass Trauernde mit denjenigen Mitleid haben, die wegsehen. Weil sie sich nicht ins Dunkle der eigenen Seele vorwagen. Wir wollen weglaufen vor unserer Furcht, wir könnten ebenso wie der Trauernde die Kontrolle über das Leben verlieren. Dann lassen wir ihn vielleicht allein, und er fühlt sich ausgestoßen.
Deswegen ist es wichtig, dem Trauernden zu signalisieren, dass wir da sind. Etwa indem wir abends anrufen, einen Brief schreiben, ein vorgekochtes Essen vorbeibringen oder für ihn einkaufen gehen. Da sein bedeutet auch, nicht gekränkt zu sein, wenn unsere Angebote abgelehnt oder wir wieder weggeschickt werden. Da Trauernde in Bereiche ihrer Seele vorstoßen, in denen sie zuvor vielleicht selten oder noch nie gewesen sind, werden sie sich selber fremd. Manchmal lässt es sich besser in Einsamkeit und Rückzug ertragen, deswegen kann es sein, dass Menschen vertrieben werden, obwohl sie helfen wollen.
Doch Hilfsangebote haben trotzdem eine Wirkung. Trauernde brauchen meist jemanden, der bereit ist, ein Stück des schweren Weges mitzugehen, Halt zu geben, wenn alles wankt und der Schmerz zerstörerisch wird. Doch Trauernden fällt es oft schwer, auf Menschen zuzugehen. Deswegen ist es gut, sein Angebot, da zu sein, immer mal wieder zu erneuern. Und zu fragen, was guttun würde, wie man unterstützen kann.
Das Wertvollste, was wir Trauernden geben können, ist Zeit. Oder vielleicht besser: Zeitlosigkeit. Wir teilen Momente, ohne auf die Uhr zu gucken, ohne in Gedanken schon den Einkaufszettel für nachher zu schreiben oder zu überlegen, was morgen im Büro zu erledigen ist.
Zeitlos sein heißt auch, keine Erwartung zu haben, wie lange und wie heftig jemand trauern soll. Nicht nach drei Monaten denken: Nun ist es aber auch wieder gut, nun muss er nach vorne sehen. Und wenn es von selbst nicht geht, dann eben mit Therapie oder Psychopharmaka. Trauer kann man nicht von außen heilen. Genauso wenig nützt der Rat: Nun trauer doch mal richtig, komm mal aus dir raus. Wenn sich jemand zurückzieht oder auch sein Leben fast unverändert weiterlebt, ist das okay, weil es sein Weg ist. Jeder trauert anders.
Niemand kann den Schmerz nehmen
Unsere Vorstellungen, Erwartungen oder eigenen Erfahrungen sind wenig hilfreich, weil sie den Trauernden den Freiraum nehmen, seine Gefühle auszudrücken und sich dabei angenommen zu fühlen.
Wir können den Schmerz nicht wirklich teilen oder abnehmen, aber wir können ihn würdigen, ihm Raum geben. Wir können zuhören. Wir können den Verlust nicht nehmen oder ausgleichen. Der Verlust wird für immer zu diesem Menschen gehören, die Frage ist nur, wie gut er ihn in seine Seele integriert. Leichter wird das vielleicht, wenn wir signalisieren, dass alle Gefühle, wie heftig und stark sie auch sind, sein dürfen.