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Albert Einstein und das Faultier

Die siebte und letzte Todsünde ist die Faulheit. Da fällt einem sofort das Faultier ein. Warum es aus gutem Grund faul ist und was der Mensch von ihm lernen kann, weiß der Biologe Manfred Niekisch.

„Stinkendfaul“, „fauler Hund“ und „Faulpelz“. So einen richtig guten Ruf hat die Faulheit unter Menschen nicht. Vielleicht hat das Faulsein aber hier und da auch seine Vorteile.
Wenn es um Faulheit geht, fallen einem sofort zwei Begriffe ein: Der Faulpelz und das Faultier. Ersterer ist verpönt, weil er wenig oder nichts Positives beiträgt zum gesellschaftlichen Leben. Obwohl Faulheit dem Menschen oft verwerflich erscheint, wenn sie bei seinen Mitmenschen auftritt, ist das Faultier für die meisten Menschen ein großer Sympathieträger. Bedächtige Bewegungen, niedliches Aussehen, einfach süß! Da scheint nichts Negatives in seinem Namen zu sein, und das zu Recht.

Seine Faulheit erweist sich bei näherem Hinsehen sogar als äußerst erfolgreiche Lebensstrategie. Die Evolution hat für das Faultier eine einfache Rechnung aufgemacht: Als reiner Blätteresser nimmt es nur Nahrung zu sich, die nicht besonders viel Energie liefert. Und letztere braucht man auch wenig, wenn man sich nicht viel bewegt. Was also wie Faulheit aussieht, ist ein raffinierter Energiesparmodus. Lieblingsspeise der Faultiere sind die Blätter der Ameisenbäume. Diese scheinen besonders schmackhaft zu sein, aber kein Tier traut sich an sie heran. Denn, wie der Name schon vermuten lässt, bieten diese Bäume Heimat für Ameisen, und die sind sehr aggressiv. Werden sie alarmiert, etwa dadurch, dass ein Affe in den Baum springt, stürzen sie sich auf ihn. Zwar nicht mit Gebrüll, aber heftig. Damit sind die Blätter geschützt. Im Gegenzug bietet der Baum den Ameisen Versteck und Pflanzensäfte. Es ist eine richtig schöne Symbiose.

Energiearme Nahrung, langsamer Stoffwechsel

Nur die Faultiere hintergehen diese Strategie der Natur. Sie bewegen sich so langsam, dass die Ameisen den Eindringling nicht bemerken. Der kann ganz in Ruhe in das Blätterdach klettern und sich an dem Grün laben, das keinem anderen Tier zugänglich ist. Und da sich Langsamkeit beim Fressen bewährt hat, kommt sie auch bei der Verdauung zum Tragen. Das Faultier klettert nur im Wochenabstand vom Baum herab, um einmal Kot abzusetzen. Energiearme Nahrung, langsamer Stoffwechsel, wenig Bewegung. Damit hat das Tier eine ökologische Nische besetzt, die es mit keinem anderen Tier teilen muss. Es kann so konkurrenzlos leben. Noch dazu ist es durch den Bewegungsmangel geschützt vor der Harpyie und anderen Greifvögeln, die sich gern mal ihre Beute, etwa herumturnende Affen, aus dem Kronendach des Urwalds greifen.

Solchen Schutz hat der König der Tiere, der Löwe, natürlich nicht nötig. Er gilt zu Recht als kraftvoller dynamischer Beutegreifer, dem kaum ein anderes Tier etwas anhaben kann. Zudem ist er die einzige Katzenart, die in Rudeln lebt, in denen eine ausgeprägte Hierarchie herrscht. Das erhöht auch den Jagderfolg. Mit bestens koordinierten Anschleichtechniken jagen und erlegen Löwen ihre Beute im Rudel. Diese Anpirschjagd erfordert Erfahrung, Strategie, Geschick und eine hervorragende Koordination.
So ist es denn kein Wunder, dass eine Löwenjagd auf ein Zebra, einen Büffel oder eine Antilope für den Safaritouristen, ja selbst für den Fernsehzuschauer ein faszinierendes Schauspiel ist. Weit weniger aufregend ist die Beobachtung satter Löwen nach einer erfolgreichen Jagd. Träge liegen sie herum, verschlafen den größten Teil des Tages und bieten ein Bild friedlicher, ausgeprägter Faulheit. Doch auch dies hat seinen biologischen Sinn. Es darf keine unnötige Kraft vergeudet werden. Löwenmännchen sind einem erheblichen Druck durch Nebenbuhler ausgesetzt und müssen ständig bereit sein, sich im Kampf um ihre Position und um ihr Rudel den Herausforderungen stellen.

Keine unnötige Kraft zu vergeuden ist auch oberstes Ziel der See-Elefanten. Ihre Jungtiere liegen fast unbeweglich am Meeresstrand, zum Beispiel in Patagonien. Ihre tief schwarze Fellfarbe dient dazu, die Wärme der Sonneneinstrahlung voll auszunutzen. In Verbindung mit der bei diesen Meeressäugern besonders fetten Muttermilch und der Bewegungsarmut ist alles darauf ausgelegt, dass die Tiere möglichst schnell heranwachsen und dann in ihren kalten, nassen Lebensraum abtauchen können.
Auch die Erwachsenen brauchen eine dicke Fettschicht als Isolation gegen die Kälte. Sie stoßen hunderte von Metern in die Tiefen des Meeres vor, um an ihre Nahrung, die unter anderem aus Tintenfischen besteht, zu gelangen. Dabei zeigen sie ihre ausgezeichneten Fähigkeiten als Schwimmer und Taucher. Und von den an Land so schwerfälligen, unbeholfenen Bewegungen ist dann nichts mehr zu ahnen.
Die Beispiele dieser drei ganz unterschiedlichen Tierarten Faultier, Löwe und See-Elefant stehen stellvertretend für viele andere Arten, die uns über weite Zeit ihres Lebens den Eindruck von Faulheit vermitteln. In Wirklichkeit geht es dabei aber um das Einsparen von Energie. Die scheinbare Faulheit erweist sich als sinnvolle Strategie, sparsam mit den Ressourcen umzugehen.

Sparsamer Umgang mit den Ressourcen

Sie müssen nicht ständig in Bewegung sein auf der Suche nach Nahrung oder aufmerksam sein, um sich vor Fressfeinden zu schützen oder um ihren Stoffwechsel auf schnellem Umsatz zu halten, wie das bei vielen anderen Tierarten nötig ist. Werden sie dann in ihren ruhigen Phasen von Menschen beobachtet, entsteht schnell der Eindruck von Faulheit. Dieser Begriff ist aber im Tierreich völlig unangebracht. Im Christentum gilt sie als eines der Hauptlaster der Menschheit und bezeichnet jemanden, der in Vernachlässigung dessen, was man von ihm erwartet, keine Motivation und Aktivität zeigt.
Damit wird Acedia, wie Faulheit christlich-spirituell heißt, zur Todsünde. Und ein Mensch, der vielleicht aus gutem Grund gewisse Anstrengungen vermeidet, wird von den Fleißigen schnell zum Faulpelz abgestempelt. Dabei kommt es gar nicht automatisch darauf an, ob der damit seinen Mitmenschen zur Last fällt. Und schon zeichnet sich ab, dass Faulheit kaum ein wissenschaftlich zu definierendes Verhalten ist, sondern eine ethische Kategorie.

Faule Menschen gelten oft auch als Träumer. Smohalla, einer der wichtigsten religiösen Führer der nordamerikanischen Indianer im 19. Jahrhundert, war aber sogar der Meinung, dass Menschen, die bloß arbeiten, keine Zeit zum Träumen haben. Aber nur wer träumt, gelange zur Weisheit. Da müssen die „Fleißigen“, die Arbeitsamen sich schwer getroffen fühlen. Vielleicht ist uns auch die Kultur und Geisteswelt der nordamerikanischen Ureinwohner zu fremd, zu weit entfernt, um bei uns Verständnis zu finden.
Dass Faulheit beim Menschen nichts Verwerfliches ist, vertritt aber auch ein prominenter Deutscher, der wohl berühmteste Wissenschaftler aller Zeiten und wirkliches Genie mit Nobelpreisträgerstatus. Albert Einstein lud 1931 seinen Sohn Eduard ein in sein Haus nach Caputh, indem er ihm schrieb: „Sei ein gutes faules Tier, streck alle Viere weit von Dir. Komm nach Caputh, pfeif auf die Welt, und auf Papa, wenn Dir‘s gefällt.“ Vergleiche zwischen Tieren und Menschen sind meist problematisch, und ethische Kategorien des Menschen auf Tiere zu übertragen, geht fast immer daneben. Lassen wir dem Faultier ruhig seinen Namen. Und überlegen uns dennoch, was wir von ihm lernen können. Von ihm und von Albert Einstein.