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400 Sprachwissenschaftler tagten in Mannheim

Wissenschaftler entdecken ein neues Forschungsobjekt: gesprochene Sprache. Sie stand nun im Zentrum der Jahrestagung des Leibniz Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim.

Sollte ein Schüler im Deutschaufsatz schreiben “Ich hab ein Freund”, würde das die Lehrerin als Fehler markieren. Denn eigentlich “habe ich einen Freund”. Doch in der gesprochenen Sprache geht der grammatikalische Fall, hier der Akkusativ, schon mal verloren. Das ist normal – und erlaubt.

“Gesprochenes Deutsch” war jetzt der Titel der 60. Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache, und auf der abschließenden Pressekonferenz am Donnerstag in Mannheim unterstrich Institutsdirektor Henning Lobin: “Wir sehen es als wichtige Aufgabe an, die gesprochene Sprache zu dokumentieren und zu erforschen.” Denn viele Jahrzehnte habe das gesprochene Wort keinen guten Ruf gehabt. “Die gesprochene Sprache galt Linguisten als defizitär”, betont Arnulf Deppermann, der am IDS die Abteilung Pragmatik leitet.

Das hat sich geändert. Zum einen wird laut Lobin anerkannt, dass anders gesprochen als geschrieben wird und dies einen Sinn hat. Zum anderen hat der technische Fortschritt Tonbandgerät und digitale Speicherung hervorgebracht und so die Möglichkeit eröffnet, Gespräche aufzunehmen, sie zu verschriftlichen und dann wissenschaftlich zu analysieren. Das IDS verfügt inzwischen über eine eigene “Datenbank Gesprochene Sprache”, die authentische Gespräche in Alltagssituationen, etwa zu Hause beim Essen kochen, im Unterricht in der Schule oder in der Arztpraxis enthält.

Insgesamt sind in der Datenbank 4.700 Stunden Audioaufnahmen, 230 Stunden Video sowie 21 Millionen transkribierter Wörter gespeichert. Die können auf der Suche nach besonderen Phänomenen der gesprochenen Sprache durchforstet werden.

Dazu gehören zum Beispiel die Partikel ja, eben, genau oder richtig. Wie Deppermann betont, nimmt der Sprecher auf diese Weise Stellung zu einer Information. “Das sind wichtige Wörter in der Interaktion, die eine Leistung erbringen und zum Verständnis in einem Gespräch beitragen.” Früher habe man von “Würzwörtern” gesprochen, Füllwörter ohne Nutzen.

Ein anderer Ausdruck, der sich immer häufiger in der gesprochenen Sprache finde, gehe vom Verb “sagen” aus: “ich wollte gerade sagen”. Was nicht immer heißt, dass jemand die Absicht hat, etwas zu sagen, wie Deppermann erklärt. “Das ist eine Art von Bestätigung, die anzeigt: ‘Ich habe dasselbe Wissen wie du, ich habe die gleiche Autorität zu dem Thema.'”

Für eine grobe Schätzung werde demgegenüber der Ausdruck “ich sag mal” genutzt: “Ich sag mal, es waren 400 Teilnehmer bei der Jahrestagung in Mannheim”. “Ich bin mir nicht sicher, dass das, was ich sage, stimmt, also ‘sag ich mal'”, so Deppermann.

Ein anderes Phänomen ist das der Entregionalisierung. “Dialekte bauen sich ab, dafür finden sich bestimmte Formen, die sich über einen größeren Raum ausbreiten”, erklärt Lobin. Zum Beispiel das Wort “moin”. Nicht mehr nur Bewohner norddeutscher Inseln begrüßten sich auf diese Weise, sondern auch Menschen im Ruhrgebiet.

Dass Schülerinnen und Schüler nicht drumherum kommen, die Standardsprache zu lernen, ist für Lobin indes klar. Denn in der seien wesentliche Texte verfasst, etwa in Verwaltung, Wissenschaft und Justiz. Beeinflussungen der gesprochenen Sprache auf die Schriftsprache werde es gleichwohl geben. Das gelte insbesondere für Zusammenschreibungen. So kann ein Auto auch “vorm” Haus parken und muss dies nicht “vor dem” Haus tun.